Passagen aus meiner Erzählwelt

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Auftakt

 Wahrheit findet und sucht seinen Weg


Der friedliche Augenblick verflog so schnell, wie er aufgetaucht war. 

Seine nächtlichen Gedanken sprangen ihn, wie ein gereizter Panther an. 

Seit Jahren war ihm dieser Zustand nicht mehr bekannt, 

er spürte eine gefährliche Unausgeglichenheit bis in den Seelengrund. Rasch verließ er sein Bett. 

Er fühlte in jedem Winkel seines Bewusstseins, er durfte um des Himmelswillen keine Zeit mehr verlieren. 

Flüchtig führte er seine Morgentoilette durch, drängte seinen Diener beim Ankleiden zur Eile 

und nach einem spartanischen Frühstück verschwand er in seinem Arbeitszimmer. 

Nach einer halben Stunde rief er nach seinem Sekretär und kam ohne große Umwege zu einem Anliegen. 

Höflichkeit und Geduld entsprachen nicht seiner Natur.

‚Du suchst mir den besten Gärtner im Lande und beorderst ihn zu mir‘.

Mit einer wischenden Handbewegung wurde der Sekretär mit dem eiligen Auftrag entlassen. 

Einen Tag später trafen sich der Bankier, der Gärtner und sein Sekretär gemeinsam zu einem Arbeitsgespräch.

‚Kennst du den Park unseres Monarchen?‘

Im Gesicht des Gärtners blitzte Stolz auf. 

Der Aufbau des Parkes war er zum großen Teil sein Verdienst. 

‚Ich kenne ihn‘, antwortete dieser knapp.

‚Du wirst mir einen Garten bauen, prächtiger als alles, was dieses Land bisher gesehen hat. 

Der Garten unserer Majestät darf dir als Vorbild dienen, aber nur als Vorbild.‘

Er verstummte kurz und musterte sein Gegenüber scharf.

‚Geld spielt keine Rolle‘, er fixierte sein Gegenüber so, dass dieser keinen Widerspruch wagte. 

Schließlich stellte der angesehene Geldmann die für ihn entscheidende Frage. 

‚Wann kannst du mit dem Bau meines Gartens anfangen?‘  

‚Nun’, der Gärtner ließ sich durch den Bankier nicht aus der Ruhe bringen, ‚ich muss zuerst die angefangenen Arbeiten erledigen. Ich denke frühestens in drei Monaten.’

Die Adern am Hals des Bankiers fingen an zu schwellen, sein Kopf veränderte die Farbe 

und eruptiv brach es aus ihm heraus.

‚Du fängst sofort an! Ein Nein und Verzögerungen dulde ich nicht! 

Überlasse deine bisherigen Aufgaben deinen Assistenten! 

Ab sofort kümmerst du dich ausschließlich um mein’, er unterbrach sich für eine kleine Korrektur 

und atmete tief durch, ‚um unser Ziel‘.

‚So geht das nicht’, versuchte der Gärtner sich gegen den Zorn, der von seinem Gegenüber ausging, 

zu behaupten.

‚Geht nicht’, presste dieser, sich mühsam zurückhaltend, durch die Zähne, 

‚so etwas kommt in meinem Wortschatz nicht vor.’

Die Frau unterbrach ihre Schilderung, schaute in eine undefinierte Ferne und sprach dann weiter. 

„Wie es weiterging, will ich nicht vertiefen. 

Einen Monat später begann der Gärtner mit seiner Arbeit. 

Drei Jahre dauerten die Arbeiten in denen Entwürfe verworfen und genehmigt wurden. 

Häufig erhielten die Waghalsigsten von ihnen den Zuschlag. 

Für die anfallenden architektonischen Arbeiten wetteiferten die besten Architekten des Landes. 

In diesen drei Jahren lernte der erfahrene Gärtner nochmals ganz neu die Bedeutung 

der Worte Enttäuschung, Hoffnung und Erfolg zu definieren.

Unmittelbar erlebte er das Werden und Wachsen eines einzigartigen Parks. 

Oft stand er vor dem Aus seiner Arbeit und wollte resignieren. 

Doch immer wieder schöpfte er Kraft aus dem bisher Geschaffenem und dem unbeugsamen Willen seines Auftraggebers. 

Beim Abschluss seiner Aufgabe, die inzwischen Teil von ihm geworden war, stieg in ihm eine tiefe innere Befriedigung auf. Ruhe und Gelassenheit fühlte er in seiner Seele beim Betrachten seines Werkes. 

Seinem besonderen Stolz galten die Wasserspiele am Ende des angelegten Gartens 

und ein monumentaler Brunnen im Zentrum des Parks. Dieser war aus italienischem, weißem Marmor. 

Zu diesem führte ein, den Park in zwei Hälften teilender, Säulenpfad. 

Auf den Säulen saßen, einige so lebensecht, dass der Betrachter glauben konnte, sie würden gleich auf einen herunter springen, aus der Mythologie stammende Figuren aus verschiedenen Steinarten und Metallen. 

Jedes Mal, wenn der Gärtner vom Balkon des Herrenhauses den Graten betrachtete, 

erfüllten ihn Zufriedenheit und ein seltenes Glücksgefühl. 

Er wusste, in dieser Landschaft hatte er sich selbst verwirklicht. 

Plötzlich erkannte er seine Belohnung für die letzten Jahre der Anstrengung. 

Er wusste endgültig, wie sich ein Mensch fühlte, der sich im Einklang mit Gott und der Natur befand. 

Er war wunschlos glücklich. Er fühlte ein warmes helles Licht in sich. 

Alle Bereiche seines Seins wurden durchflutet.

Aber wie erging es inzwischen unserem Initiator?“

Die weise Frau legte eine erwartungsvolle Pause ein und sah unseren Suchenden lange in die Augen. 

Darin sah sie nur Unverständnis. Nachdem die Männer die Antwort schuldig blieben, schloss sie ihre Augen und schaute mit ihren Sinnen auf die von ihr geschaffene virtuelle Welt. Mit leiser Stimme fuhr sie fort.

„Der Bankier hatte ungeduldig auf die Fertigstellung seines Gartens gewartet. 

In den letzten Wochen brüstete er sich überall, betonte, wie sensationell und einmalig sein Park werden würde. Gleichzeitig wurden, war dies der Ausgleich, schlaflose Nächte immer häufiger Bestandteil seines Lebens. Jedes Mal, wenn es unvorhersehbare Verzögerungen gab, die die Fertigstellung seines Parks hinausschob, entstand in ihm eine Krise und er fühlte sich von seinem Schicksal verraten. Je näher der Tag kam, an dem der Garten eingeweiht werden sollte, umso mehr drehte sich sein gesamtes Denken und Trachten sich nur noch um die Bewunderung, den Neid und das Staunen seiner Gäste. Er stellte sich vor, wie ihn alle bewunderten und beneideten. So konnte es nicht ausbleiben, dass sich sein Traum immer mehr auf seine Geschäfte aus wirkte. 

Diese liefen immer schlechter. 

Einige Male hatte er sich gefährlich Nahe am Bankrott verspekuliert. 

Zweifel über seine Fähigkeiten breiteten sich in ihm aus. 

Plötzlich glaubte er, dass sein Glück ihn verlassen hätte. 

Fortuna war bisher, davon war er überzeugt, eine treue Begleiterin seines Leben gewesen. 

Die Verunsicherung bewirkte zu seinem Unglück nicht, dass er sich zurücknahm, nein, im Gegenteil, 

die Zweifel äußerten sich in Wut, Verzweiflung und Unbehagen. 

Er steigerte sich immer mehr ins Besitzen wollen, ins Recht haben wollen, 

und in den Glauben, dass all die Anderen, Schuld an seinem Unglück trügen. 

Er misstraute der ganzen Welt. 

An Einschränkungen in seinem bisherigen Leben war er nicht gewöhnt, 

nur schwer kam er mit dieser für ihn unbekannten Situation zurecht. 

Trotzdem wollte er weiterhin das Unmögliche. Jeder Verzicht kam einer Verwundung seiner Seele gleich. 

Jeden Misserfolg empfand er als ungerechte Strafe Gottes. 

Bis zur Fertigstellung seines so herbeigesehnten Parks haderte er mit sich und der Welt. 

Endlich war es dann so weit, sein Gärtner meldete die Vollendung des Parks. 

Der Bankier bedankte sich und schickte den Gärtner weg. 

Allein, nur die unterschiedlichsten Gefühle begleiteten ihn, betrat er die Gartenlandschaft. 

Sorgfältig ohne Eile betrachtete das fertige Werk. 

Vor jedem Kunstwerk, vor jedem Brunnen, vor jeder Pflanze blieb er lange stehen. 

Doch dass was er sich erhofft hatte, trat nicht ein. 

Seltsamerweise stieg nicht die Befriedigung in ihm hoch die er erwartet hatte. 

Im Gegenteil, Enttäuschung breitete sich in ihm aus. 

Zu seiner Überraschung geschah jedoch etwas Unerwartetes, eine Last, 

die er seit einiger Zeit unbewusst mit sich herumgeschleppt hatte, fiel von den Schultern. 

Doch kaum war der Fels auf dem Boden gelandet, fühlte er sich nicht befreit sondern missverstanden. 

In ihm entstand, an jener Stelle, den der Fels seit Langem eingenommen hatte, eine dunkle, unendliche, hoffnungslose Leere. Seine Erwartungen, seine Sehnsucht nach innerem Frieden, 

seine Suche nach Licht, wurden nicht erfüllt. 

Wie so oft, wenn er glaubte, die Welt verstand ihn nicht, beklagte er sich bei seinem Gott.“

Stille. Während sie die Schilderung wirken ließ, sah sie die nachdenklichen Männer, abwechselnd, direkt in die Augen. Das abwehrende Lächeln war aus ihren Gesichtern verschwunden.

„Bevor ihr endgültig geht, möchte ich euch noch ein Wort der alten Meister mit auf den Weg geben. 

Wer auf seinem gottgegeben Anspruch im Glück-sein zu Sein verzichtet, erfüllt sein Da-sein nicht.“

Endgültig verwirrt, ohne noch ein weiteres Wort abzuwarten, verließen die Männer beinahe fluchtartig 

die kleine Hütte. 

Während sie gemeinsam die Treppen der Pyramide hinuntereilten, begleitete sie das Gefühl, 

dass etwas mit ihnen geschehen war, aber als sie sich später bei einem Glas Wein darüber unterhielten, 

konnten sie das Erlebte nicht wirklich in ihre Welt einordnen. 

Kurz, nachdem die Männer den Raum verlassen haben, erfüllte angenehme Einsamkeit den Raum. 

Tief und gleichmäßig atmete die Frau, ihre Welt ein und aus. 

Die Sonne stand inzwischen tief am glutroten Horizont und die von ihr ausgesandten Lichtstrahlen drangen ungehindert in die nachdenkliche Stille. 

Gerne hätte sie den Männern noch etwas gesagt. 

Aber sie waren genauso überraschend wie sie gekommen waren, 

wieder aus ihrem Leben verschwunden.



Heilig ist jeder

Tränen befreien Leben

Jesus lebt für uns 

 

??

 

Es ist der dritte Abend an dem Abt Benedikt und Dominik eine Flasche Wein genießen. 

Die Nacht ist weit vorgerückt. Bisher haben sich die Beiden über weltliche Themen ausgetauscht. 

Schließlich entstehen immer längere Pausen in dem Gedankenaustausch über das Leben. 

Ob von einem der Beiden gesteuert oder nicht, kommen sie ins Philosophieren. 

Beide stellen ihr Weinglas, gefüllt mit altem Rotwein aus dem Klosterkeller, 

beinahe synchron auf den Tisch zurück. Stille herrscht zwischen den Beiden. 

Nach einer nachdenklichen Pause wendet sich Abt Benedikt seinem Gegenüber zu 

und schaut ihn lange Aufmerksamkeit an. 

»Dominik, wenn ich dich richtig verstanden habe«, unterbricht er sein Schweigen, 

»bist du dein Leben lang ein Suchender.« 

Dominik überrascht diese Frage. 

»Benedikt«, sie hatten sich darauf geeinigt. die Anrede Abt in dieser intimen Zusammenkunft wegzulassen, 

»du hast Recht, meine Suche nach dem Wohin, Warum, Wieso, dauert schon mein halbes Leben«, 

antwortet Dominik.

»Wusstest du, dass Jesus auch ein Suchender war?«

Dominik überrascht diese Frage.

»Darüber habe ich bisher nicht nachgedacht. Doch mein Eindruck war und ist, dass Jesus vollkommen, 

von Geburt an, in diese Welt geboren wurde und seinen Weg kannte.« 

Schweigen.

»Nun es stimmt, Jesus ist Gottes Sohn und als solcher vollkommen, 

doch er wurde als Mensch in diese Welt gesandt, mit Gefühlen und Emotionen. 

Er sollte fühlen, spüren was einen Menschen bewegt.«

»So sehe ich das auch«, reagiert Dominik spontan, »Jesus war ein Mensch, 

wenn auch ein außergewöhnlicher. Viele seiner Taten waren für die Menschen 

denen er begegnete oft unerklärlich und sie glaubten, dass Jesus Wunder vollbringen kann. 

Allerdings erst im Christentum wurde verkündigt, dass Jesus Christi«, Dominik atmet tief ein, 

»Gottes Sohn ist; und zur Erlösung der Menschen, in die Welt gesandt wurde. 

Doch die Schriftgelehrten im Judentum glauben bis heute, Jesus war nur ein weiterer Prophet.«

Die Augenbrauen Benedikts steigen in Zeitlupe nach oben.

»Natürlich gibt es immer Zweifler und jede Religion geht seinen eigenen Weg. 

Doch sprechen wir jetzt vom Weg, den Jesus auf seiner Suche ging. Möchtest du wissen, 

welchen Weg«, die dunklen Augen unter den buschigen Augenbrauen leuchten auf 

und die Stimme wird eine Nuance lauter, »Gottes Sohn ging.«

Für einen Augenblick liegt eine unterschwellige Spannung in der Luft. 

Dominik greift nach dem Weinglas, hält es ins Kerzenlicht, atmet tief durch, setzt es an die Lippen 

und trinkt einen Schluck, den er langsam über seine Zunge gleiten lässt und wendet sich Gelassenheit 

ausstrahlend dem Abt zu.

»Natürlich will ich wissen, wie du Jesus Welt siehst. Du hast dich bestimmt lange mit dem Lebenswerk 

von Jesus beschäftigt. Bin auf deine Sicht gespannt und neugierig.«

»Dann soll es so sein«, der Abt lässt eine Pause zu, lächelt und beginnt, »wie du bestimmt weißt, 

wurde Jesus von Nazareth in einer Zeit des Umbruchs geboren. Damals gab es zwischen den Schriftgelehrten 

und Pharisäern Streit über den wahren Weg zu Gott. Die Römer, Besatzer des Landes, 

hatten da nicht so ein Problem, sie hatten für ihre diversen Anlässe, jeweils den richtigen Gott.«

Der Abt schweigt kurz, schaut Dominik in die Augen, als suche er etwas, bevor er weiterspricht.

»In seinen ersten Lebensjahren nahm Jesus die unterschiedlichsten Strömungen im Leben 

der Menschen und ihrer Religionen wahr. Er erkannte immer mehr, wie der Abstand 

zwischen Gott und den Menschen immer größer wurde. Immer heftiger spürte er, 

dass er einen Weg finden musste, Gott und Menschen zu versöhnen. Immer weniger 

konnte er verleugnen, dass seine eigene Vorstellung über Gott, die der Pharisäer und 

der damaligen Hohepriester, immer stärker voneinander abwichen. Um zu verstehen, 

wurde er Schüler in den verschiedenen Schulen, die Theologie, Philosophie und Politik lehrten. 

Dabei wurde ihm außerdem bewusst, wie groß der Abstand zwischen den gelebten Werten, 

dem gelehrten Wissen und ihrem Handeln, immer weniger im Einklang 

mit seiner Vorstellung von Gott war. In dieser Zeit nahm nicht nur sein Zorn zu, 

sondern auch der Zweifel. Beides nahm einen immer größeren Raum in seinem Leben ein.«

»Wieso wurde Jesus zornig? Müsste er nicht Abstand zur menschlichen Welt haben und 

als Gottes Sohn über den Dingen stehen?«

Irritation ist im Gesicht des Abtes abzulesen. 

Um sich zu sammeln greift er nach seinem Weinglas und trinkt einen langen Schluck. 

Langsam stellt er das Glas auf die dicke Tischplatte aus Eichenholz zurück und nimmt seinen Faden 

wieder auf indem er wiederholt was er schon gesagt hat. Die Stimme Benedikts hat, 

einen für Dominik spürbaren negativen Unterton.

»Der Wein aus eurem Weinkeller ist wirklich exzellent«, sagt er leise. 

Benedikt ist kurz verunsichert, schüttelt den Kopf und greift den Faden erneut auf. 

»Nun Dominik, ich dachte wir haben uns darauf geeinigt, dass in der Bibel steht, 

Gottes Sohn wurde als Mensch geboren, mit all seinen Stärken und Schwächen. 

Indem er menschlich fühlt und denkt ist es ihm möglich sich in die Psyche eines Menschen hineinzudenken«, 

der Abt atmet und achtsam tief ein, »und zum Menschsein gehört nun mal unter anderem der Zorn!« 

»Nun du bist offensichtlich ein Mensch«, Dominik lächelt, »ich habe es nicht so gemeint. 

Du sollest wissen, ich kenne viele Religionen und der Zweifel welche nun die wahre Lehre ist, 

begleitet mich schon lange auf meinem Weg.«

Dominik beugt sich nach vorne, sieht direkt in Benedikts Augen.

»War nicht einer seiner Hauptaufgaben stellvertretend für unsere Sünden zu sterben.«

»Tatsächlich«, Benedikt löst seinen Blick von Dominik, »doch kommen wir zurück zu Jesus. 

Seine Suche war nicht die Suche nach Sinn und Dasein, dies war ihm schon früh deutlich, 

seine Suche galt der Frage, wie kann ich Menschen auf den wahren Pfad führen, 

den du ja offensichtlich auch suchst, auf dem all ihre Fragen nach dem 

Warum, Wieso und Wohin beantwortet werden.«

Benedikt verstummt, um zu sehen wie seine Worte auf sein Gegenüber wirken. 

Dieser schweigt abwartend.

»Kommen wir zum entscheidenden Moment im Leben von Jesus. 

Zu dem Ort an dem er erleuchtet wurde, der Wüste.«

»Ehrlich Benedikt, kam Jesus nicht erleuchtet auf die Welt«, 

unterbricht Dominik den Gedankengang des Abtes.

»Dominik, hast du dich ernsthaft mit dem Christentum und der Bibel auseinandergesetzt?«

»Nun nicht studiert im üblichen Sinne, doch ich glaube soweit dies in der heutigen Zeit von Belang ist, 

kenne ich die allgemein wichtigen Inhalte der Bibel.« 

»Nun wie auch immer«, der Abt entlässt unüberhörbar einen tiefen Seufzer, bevor er weiterspricht, 

»Jesus wurde vom Heiligen Geist, der die Suche Jesus begleitete, in die Wüste geführt. 

Nach seinen Erfahrungen an diesem Ort trat er, wie du bestimmt weißt, 

mit ungefähr achtundzwanzig Lebensjahren, in der Öffentlichkeit auf.« 

Benedikt stoppt mit einer Handbewegung Dominik, der offensichtlich erneut unterbrechen will, 

»lass mich meine Gedanken weiter ausführen. Auf der Suche nach Erkenntnis, 

führte der Heilige Geist ihn an den Jordan, dort hatte ihn Johannes getauft. 

Während Jesus den Weg der Taufe noch einmal in sich Revue passieren ließ, 

bekam er eine neue Sicht auf sich selbst und er begann zu verstehen. 

Doch kommen wir zurück zu der wichtigsten Station seines Weges in die Wüste. 

Vierzig Tage verbrachte Jesus dort. Im Laufe dieser Zeit wurde Gottes Sohn mit Satan konfrontiert. 

Dieser spricht auf bildhafte Weise, will Jesus in Versuchung bringen und ihn auf seine Seite zu ziehen. 

Der Teufel kannte die Absicht Gottes. Er weiß, Gott hat seinen Sohn in die Welt gesandt, 

um die Menschen von der Erbsünde zu befreien, sie auf den rechten Weg zu führen 

und seinen Einfluss zu zerstören.«

Benedikt greift nach seinem Weinglas, befeuchtet Lippen und Kehle damit und spricht weiter. 

Dominik hat aufmerksam zugehört.

»Also Satan will Gottes Sohn vom göttlichen Weg abbringen. Er verspricht ihm Reichtum, Ehre und Macht. 

Hinter all den Angeboten verbirgt Satan seine persönlichen Absichten. 

Ja er will Jesus vor dem Volk groß machen, aber nicht auf göttliche Weise, 

sondern er soll die Menschen überzeugen, dass sie auf seine Weise leben. 

Dies bedeutet weiter gegen die zehn Gebote zu verstoßen. Jesus erkennt die Absicht des Satans. 

Der Preis den er für Reichtum, Ehre und Macht; die auf der Gunst des Teufels beruhen, ist zu hoch. 

Es gibt wohl keinen Menschen, der ganz der Versuchung widerstehen kann. 

Doch Jesus hat es uns gezeigt, wie es geht. Jesus Christus war dem Vater gehorsam. 

Bis zum Tod, bis zum Tod am Kreuz.«

»An einen Teil dieser Geschichte erinnere ich mich«, murmelt Dominik leise vor sich hin.

Abt Benedikt ist für einen Moment irritiert und unterbricht seine Schilderung 

bevor er nach kurzem Nachdenken weiterspricht.

»Wenn du dich genauer darüber informieren willst wie Satan Jesus in Versuchung bringen wollte, 

schau in die Bibel und lese Matthäus Kapitel 4 Vers 1-8.«

»Das würde ich gerne tun«, Dominik lächelt, »wenn du mir eine Bibel leihst.«

»Gerne.  Nun Jesus durchschaute die Versuchungen des Teufels und 

verließ nach vierzig Tagen die Wüste, erleuchtet und unbeschadet. 

In seinen späteren Predigten berichtete er den Menschen, gestärkt durch seine Erfahrungen, 

dass die List der Schlange fehlschlägt, wenn wir im Glauben an Gott gefestigt sind. 

Wir wissen außerdem durch ihn, wie scheinbar gute Dinge vom Teufel zum Bösen gewendet werden. 

Er predigte den Juden, seit vorsichtig und fallt nicht auf die durchschaubaren Sprüche des Teufels herein. 

Dieser verspricht euch irdisches Glück, verlangt offensichtlich nichts dafür, 

später fordert er einen hohen Preis. Eure Seele. Jesus predigte von Gott, und sprach«, 

Benedikt verstummt für einen Augenblick, sucht nach den richtigen Worten, 

»er predigte; Du sollst Jehova, deinen Gott, lieben mit deinem ganzen Herzen und 

mit deiner ganzen Seele und mit deinem ganzen Sinn und mit deiner ganzen Kraft. 

Wer an ihn glaubt dem schenkt er in seiner Güte und Liebe, das wahre Leben.« 

Dominik räusperte sich und Benedikt verstummte.

»Wenn ich dich richtig verstehe«, erwiderte Dominik nach einem Augenblick des Nachdenkens, 

»wolltest du mir zu mitteilen, dass Jesus ein Suchender war, wie so viele Menschen und 

seinen Weg gefunden hat. Allerdings mit Unterstützung, die bestimmt nicht jedem gewährt wird. 

Wenn ich mich richtig erinnere bekam er Hilfe, vom Heiligen Geist. Was ist mit uns normalen Menschen?«

»Du kannst darauf vertrauen«, sagt Benedikt mit sanfter Stimme, 

»jeder der sich auf die Suche begibt, bekommt die Hilfe auf seinem Weg, 

die seiner Entwicklung entspricht. Niemandem wird mehr aufgebürdet, als er tragen kann.«

Im Hintergrund ist eine Glocke zu hören. Unaufgefordert zählen beide die Schläge mit.

»Vier Uhr«, sagt Benedikt nachdem der letzte Schlag in der Dunkelheit der Nacht verklang, 

»ich denke wir sollten schlafen gehen.« 

Bei dem Wort schlafen wird Dominik bewusst, sein müder Körper verlangt nach Schlaf. 

»Du hast recht,« ein kräftiges Ausatmen bekräftigt seine Zustimmung, 

»mein Körper benötigt dringend Ruhe. Wir können ja morgen Abend 

über die noch anstehenden Fragen weiterreden.«

Synchron greifen sie nach ihren Weingläsern, trinken einen letzten Schluck, stellen die Gläser zurück, 

stehen auf, wünschen sich angenehme Träume. 

Anschließend ziehen sie sich in ihre Kemenaten zurück.

 


 

 

Glaube und Hoffnung

Das Leben geschieht durch uns

Feuer löscht alles

 

 

2

Glaube und Logik

 

Der neunte Glockenschlag der Klosteruhr verstummt. Schweigend sitzen 

Abt Benedikt und Dominik bei einem Glas Wein zusammen. 

Dominik der den ganzen ein Tag an seiner Lebensgeschichte gearbeitet hat, genießt die Ruhe. 

Schließlich entscheidet er sich die Stille zu durchbrechen. 

Er will einen Gedanken ansprechen, welcher ihn den ganzen Tag begleitet. 

»Gestern sprachen wir über Jesus, als Suchenden«, unterbricht Dominik die Stille, 

»und du nanntest ihn Gottes Sohn. Allerdings weiß ich im Judentum 

wird Jesus nicht als Gottes Sohn gesehen, sondern als ein weiterer Prophet. 

Einen weiteren Johannes den Täufer, Deshalb stellt sich mir die Frage, 

ist Gottes Sohn und Gott vom Glauben der Menschen abhängig? 

Was ist Glauben im religiösen Sinn?«

»Dominik, ich dachte mir schon, dass du irgendwann die Glaubensfrage stellst. 

Du bist ja nun einige Zeit bei uns.«

»Tatsächlich hat mich die Frage schon mein ganzes Leben beschäftigt. 

Für mich ist der Glaube, den die Kirche predigt, ein Konstrukt. 

Die jeweilige Kirchen- oder Glaubenslehre passt sich immer an die Gegebenheiten an. 

Zum Beispiel wird Gott als ein strenger, strafender Gott wahrgenommen und Jesus vertritt das Gegenteil, 

er steht für Liebe und Frieden. Wieso sind Gott und sein Sohn so unterschiedlich?«

»Bevor wir tiefer auf das Thema eingehen Dominik, solltest du eines in deine Überlegungen einfließen lassen. 

Ist es nicht so, dass der Glaube Menschen helfen kann, einen Sinn im Leben zu finden? 

Wird es nicht immer schwieriger, sich in einer immer komplexeren Welt zu orientieren? 

Religiöse Überzeugungen, Lebensphilosophien oder spirituelle Praktiken können den Gläubigen helfen, 

ihre Identität und ihren Lebenszweck zu definieren.«

»Natürlich Benedikt. Der Glaube, glauben, ist für die, die Glauben eng mit kulturellen Traditionen 

und Bräuchen verknüpft. Für viele Menschen sind Religiöse oder spirituelle Praktiken wichtig, 

um zu signalisieren, sie gehören zu einer bestimmten Gemeinschaft. Rituale, 

die von Kirchen und Religionen vorgegeben werden, helfen außerdem dem Leben einen Sinn zu geben 

und es zu bewältigen. Jeder benötigt Regeln, Halt und einen Plan für den Alltag und 

eine Religion, und der Glaube ermöglicht dies. Warum sollte das für alle nötig sein. 

Gibt es nicht Menschen die mit dem Glauben nichts anfangen können? 

Werden es heutzutage nicht sogar immer mehr? Menschen die sich etwas Imaginärem, 

einem Gott, nicht unterwerfen wollen. Sie sind überzeugt, sie benötigen keine Regeln. 

Sie wollen einen Plan, denn sie für ihr Leben selbst bestimmen

Dominik atmet tief ein, greift nach der Weinflasche und schenkt sein Glas halbvoll, 

trinkt einen langen Schluck. Eine nachdenkliche Pause entsteht.

»Natürlich gibt es Menschen«, Benedikt sieht seinem Gegenüber in die Augen, 

als suche er etwas bestimmtes, »die ihr Leben reflektieren und wissen wie 

sie ihr Leben gestalten wollen. Und doch ist der Glaube an Gott, an etwas, 

dass über dem Menschen steht, wichtig für jedes Handeln. 

Der Glaube lässt niemanden bei Sinnfragen allein«, 

der Abt greift, mit einem Lächeln, welches Unerschütterlichkeit ausdrückt, 

nach seinem Weinglas und nimmt einen wohldosierten Schluck, 

»die Bibel und der Glaube den wir daraus gewinnen können, 

sind eine Möglichkeit, das Unbekannte oder Unverständliche zu verstehen. 

»Anhand der Bibel seinen Glauben zu festigen «, unterbricht Dominik, 

»ist nur eine Möglichkeit! Wie ich schon gesagt habe, 

es gibt eine Vielzahl von Glaubensrichtungen auf unserem Planeten. 

Ich möchte nur die Hauptströmungen erwähnen. 

Außer dem Christentum gibt es den Islam, den Hinduismus, das Judentum, den Buddhismus 

und nicht zu vergessen unzählige Naturreligionen. 

Im Grunde ist der Glaube eine Flucht vor den Dingen, die wir nicht verstehen.« 

»Bitte Dominik, lass mich den Gedanken zu Ende führen. 

In Zeiten, in denen Wissenschaft und Rationalität immer weniger eindeutige Antworten anbieten, 

sind religiöse oder mystische Überzeugungen, du wirst mir sicher zustimmen, als Erklärungsansätze wichtig.«

Der Abt lehnt sich zurück und wartet auf eine Reaktion. Er muss nicht lange warten. 

»Eigentlich bedeutet Glauben doch, nicht zu wissen. Müssen Gläubige deshalb vertrauen, 

dass die Lehre, der sie sich hingeben, wahr ist? Wem sollen sie vertrauen? 

Sich selbst, einer Vaterfigur oder irgendwelchen Führern?«

»Nun jeder muss selber entscheiden. Doch wer eine Leere in sich fühlt, 

und dies sind bestimmt nicht wenige, wird sich auf einen Weg begeben 

und nach dem Grund suchen oder einer Möglichkeit diese Leere zu füllen. 

Auf dem Weg wird er vielleicht einen eigenen Zugang zum Glauben entdecken. 

Dabei kann Logik und Vertrauen helfen.« 

Dominik ist verwirrt.

»Tatsächlich. Inwieweit Logik?«

»Wieso nicht! Es gibt viele große Denker und selbstlose Menschen im Glauben, 

deren Leben zuerst auf Logik aufgebaut war und sie schließlich dem Glauben Priorität eingeräumt haben!« 

»Bevor du weitersprichst, lass mich nachfragen Benedikt. 

Bist du sicher, dass deren Leistungen auf Logik und nicht auf ihren Glauben beruhen.«

»Du willst sagen«, der Abt lacht, »Einstein war nicht zuerst durch und durch Logiker, 

bevor er gesagt hat; Gott würfelt nicht? Als weiteren Zeugen möchte Blaise Pascal aufrufen. 

Zuerst war er Mathematiker, Physiker, Literat und schließlich christlicher Philosoph. 

Nebenbei bemerkt, er setzte sich mit der Logik des Würfelspiels auseinander. 

Keine Frage die christliche Philosophie, funktioniert nicht ohne Logik;

 und Logik ist kein Widerspruch zum Glauben. 

Wenn ich wollte könnte ich noch viele weitere Beispiele aufzählen,«

»Dies mag ja sein, doch deine Beispiele sagen es ist besser, wenn der Glaube 

erst an zweiter Stelle steht und die Logik an erster Stelle eine Rolle spielt? 

Wo ist die Logik, an einen Gott zu glauben, an einen Gott, 

der immer auf der Seite der jeweiligen Religionen zu stehen hat? 

Wo ist die Logik für heilige Kriege?«

Der Abt greift nach seinem Glas. Mit ruhiger Stimme fragt er.

»Was ist mit dem gesunden Menschenverstand? Sollten wir auf ihn hören, wenn wir zweifeln? 

Wenn wir Handeln, sollten wir vorher abwägen?«

»Keine Frage der gesunde Menschenstand hilft im Leben. Doch bleiben wir bei Logik und Glauben. 

Diese können sich zweifellos gegenseitig befruchten.«

»Benedikt, willst du bestreiten, dass der Glaube viel Unheil über die Menschen gebracht hat.«

»Will ich nicht, doch ein Blick über den Tellerrand kann nicht schaden, 

wie in den östlichen Religionen gelehrt wird, ist alles eine Auseinandersetzung zwischen Yin und Yang. 

Er geht um Gleichgewicht.«

Dominik greift nach seinem Weinglas, trinkt einen langen Schluck, sortiert seine Gedanken und lächelt. 

»Du wollest sagen, zwischen Gott und dem Teufel.«

»Genau!«

Benedikt lacht entspannt. 

Ein Glockenschlag, der durch das offene Fenster in den Raum dringt, erinnert daran, es ist 1:00 Uhr.

»Dominik die Zeit ist wie im Fluge vergangen. Ich glaube«, der Abt spricht das letzte Wort etwas lauter, 

»es wird Zeit, dass wir weniger akademisch über den Glauben sprechen, 

sondern das Thema auf eine persönlichere Ebene heben.«

»Natürlich Benedikt, ein Standortwechsel kann einer Diskussion nur guttun. Also warum nicht.«

Der Abt stellt die Frage, die ihn schon den ganzen Abend beschäftigt.

»Kannst du dir eine Welt ohne Glauben vorstellen?«

Bevor Dominik sein Weinglas auf die naturbelassene Tischplatte zurückstellt, 

hält er es gegen das Kerzenlicht, bewundert das kräftige Rot. 

Während er über die Frage nachdenkt, betrachtet er die harmonische Maserung des Holzes, 

die ihn irgendwie an ein Fraktal erinnert.

»Gib mir ein bisschen Zeit. Darüber muss ich nachdenken.«

Während er das für und wider abwägt, kommt er zu dem Schluss, 

eine wirkliche Antwort kann er nicht geben. 

Er denkt weiter nach und nachdem er seine Gedanken geordnet hat, entschließt er sich zu antworten

»Es ist nicht zu bestreiten der religiöse Glaube besitzt eine innere Kraft. 

Doch gibt es für mich dann keine klare Antwort, wenn es um die Kirche geht. 

Eine Ausgewogene Sicht auf den Glauben ist allerdings wichtig. 

Sie geht in allen Lehren vom Eigennutz aus. 

Deshalb sollten wir nicht alles glauben was uns erzählt wird. 

Außerdem wie oft sagen wir das glaube ich nicht. 

Diese Aussage hat nichts mit dem Glauben zu tun.«

Dominik holt kurz Atem.

»Jede Begegnung mit dem Glauben erweckt Zweifel in mir. 

Allein die Vielfalt der Religionen ist verwirrend. Jede Religion hat einen eigenen Ansatz, 

dem Glauben ein Alleinstellungsmerkmal zu geben. Trotz dieser Tatsache kann ich mir 

eine Welt ohne Glauben nicht vorstellen. Denn der Glaube gibt uns die Möglichkeit, 

die Untiefen des Lebens zu überstehen.«

Dominik schaut sein Gegenüber an und wartet auf eine Reaktion. 


Doch Benedikt schweigt, offenbar um über das Gehörte nachzudenken. In die entstandene Pause, 

schießen Dominik weitere Gedanken durch den Kopf.

»Mir kommt im Moment ein anderer Gedanke. 

Alle glauben an Schicksal, an Kismet, ich kann nicht leugnen ich auch, 

obwohl es genauso abstrakt ist wie Gott. 

Erklärungen zu finden für das was uns geschieht ist uns wichtig. 

Der Glaube an das Schicksal gibt uns einen gewissen Seelenfrieden. 

Doch nun zu dir, kannst du mir sagen, wie du zum Glauben gefunden hast?« 

Benedikt schaut sein Gegenüber lächelnd an. Er muss nicht lange nachdenken und antwortet.

»Bevor ich auf deine Frage antworte, eine Gegenfrage; siehst du einen Unterschied zwischen Religion und Kirche?«

»Lass mich darauf eine Gegenfrage stellen, gibt es für dich einen Unterschied?«

»Mir wurde der Glaube an Gott und Jesus durch meine Eltern nahegebracht.« 

»Hab’s mir doch gedacht! Der Glaube wird von einer Generation zur nächsten weitergegeben. 

Es wird erwartet, dass kein Zweifel entsteht. Wenn doch, dann gilt was die Eltern sagen, dies ist Gesetz.«

»Wenn dem so wäre«, Benedikt lächelt, »gebe es in unserem Kulturkreis nur Gläubige. 

Doch tatsächlich ist der Zweifel stärker als irgendwelche Vorgaben, 

Vorstellungen unserer Vorfahren. Jede Generation spürt in sich, dass die Welt neu zu gestalten, 

eine wichtige Aufgabe ist.«

»Ich stimme dir zu. Doch wie ist es nun mit deinem Glauben? Inzwischen hast du dich bestimmt befreit 

von den Ansichten deiner Eltern.«

»Dominik ich habe auch meinen Weg absolviert. Ohne Scheuklappen. 

War bereit andere Religionen zu studieren. Dabei habe ich gelernt es gibt einen Gott. 

Gott ist allgegenwärtig. Schließlich habe ich abgewogen und erfahren Jesus ist mein Gott. 

An ihn glaube ich aus vollem Herzen.«

»Wieso Jesus?«

Benedikt ist erstaunt, diese Frage zu hören. Er lehnt sich zurück, schließt die Augen.

»Vielleicht sollte ich es in deinem Weltbild ausdrücken«, der Abt spricht leise, 

»Jesus ist die Reinkarnation von Gott.«

Diesmal lehnt sich Dominik zurück und schließt die Augen. 

Nach einer kurzen Zeit der Stille antwortet er.

»Erstaunliche Interpretation. Darüber habe ich noch nie nachgedacht. 

Gott ist also gestorben und wurde als Jesus wiedergeboren. Das erklärt einiges. 

Die Vorstellung finde ich interessant. Schade, dass dies nicht allgemeine Lehre ist. 

Möglicherweise würden weniger Menschen einen Abstand von der Kirche wollen«, 

auf der Stirn von Dominik entstehen Denkfalten, es sieht aus als würde er einem 

aufblitzenden Gedanken nachgehen, »was glaubst du, wie viele sogenannte Christen 

würden einen Glaubenstest bestehen? Wie viele würden ihre Seele verkaufen, 

wenn jemand ein verlockendes Angebot dafür abgibt?« 

»Interessante Fragen, offensichtlich zielst du darauf ab, dass es im Christentum immer schwieriger wird 

die Frage nach dem Glauben oder Nichtglauben eindeutig zu beantworten. Wahrscheinlich ist es so.  

Der Verkauf von etwas scheinbar nicht Vorhandenem, etwas Spekulativem, 

wird deshalb zu einem Dilemma. Bei ernsthaftem Nachspüren in unser Sein, 

entsteht das Gefühl, irgendwo tief in uns ist ein göttlicher Funke.«

 

 




Es ist der dritte Abend an dem Abt Benedikt und Dominik eine Flasche Wein genießen. 

Die Nacht ist weit vorgerückt. Bisher haben sich die Beiden über weltliche Themen ausgetauscht. 

Schließlich entstehen immer längere Pausen in dem Gedankenaustausch über das gelebte Leben. 

Ob von einem der Beiden gesteuert oder nicht, kommen sie ins Philosophieren. 

Am Ende der Nacht stellt sich heraus, es war wahrscheinlich eher ein monologisieren des Abtes.

Urteile selbst!

Beide stellen ihr Weinglas, gefüllt mit altem Rotwein aus dem Klosterkeller, 

beinahe synchron auf den Tisch zurück. Stille herrscht zwischen den Beiden. 

Nach einer nachdenklichen Pause wendet sich Abt Benedikt seinem Gegenüber zu und 

schaut ihn lange Aufmerksamkeit an. 

»Dominik, wenn ich dich richtig verstanden habe«, unterbricht er sein Schweigen, 

»bist du dein Leben lang ein Suchender.« 

Dominik überrascht diese Frage. 

»Benedikt«, sie hatten sich darauf geeinigt. die Anrede Abt in dieser intimen Zusammenkunft wegzulassen, 

»du hast Recht, meine Suche nach dem Wohin, Warum, Wieso, dauert schon mein halbes Leben«, 

antwortet Dominik.

»Wusstest du, dass Jesus auch ein Suchender war?«

Dominik überrascht diese Frage.

»Darüber habe ich bisher nicht nachgedacht. Doch mein Eindruck war und ist, dass Jesus vollkommen, 

von Geburt an, in diese Welt geboren wurde und seinen Weg kannte.« 

Schweigen.

»Nun es stimmt, Jesus ist Gottes Sohn und als solcher vollkommen, 

doch er wurde als Mensch in diese Welt gesandt, mit Gefühlen und Emotionen. 

Er sollte fühlen, spüren was einen Menschen bewegt.«

»So sehe ich das auch«, reagiert Dominik spontan, 

»Jesus war ein Mensch, wenn auch ein außergewöhnlicher. 

Viele seiner Taten waren für die Menschen denen er begegnete oft unerklärlich und 

sie glaubten, dass Jesus Wunder vollbringen kann. 

Allerdings erst im Christentum wurde verkündigt, dass Jesus Christi«, Dominik atmet tief ein, 

»Gottes Sohn ist; und zur Erlösung der Menschen, in die Welt gesandt wurde. 

Doch die Schriftgelehrten im Judentum glauben bis heute, Jesus war nur ein weiterer Prophet.«

Die Augenbrauen Benedikts steigen in Zeitlupe nach oben.

»Natürlich gibt es immer Zweifler und jede Religion geht seinen eigenen Weg. 

Doch sprechen wir jetzt vom Weg, den Jesus auf seiner Suche ging. 

Möchtest du wissen, welchen Weg«, die dunklen Augen unter den buschigen Augenbrauen leuchten auf und 

die Stimme wird eine Nuance lauter, »Gottes Sohn ging.«

Für einen Augenblick liegt eine unterschwellige Spannung in der Luft. 

Dominik greift nach dem Weinglas, hält es ins Kerzenlicht, atmet tief durch, setzt es an die Lippen und 

trinkt einen Schluck, den er langsam über seine Zunge gleiten lässt und 

wendet sich Gelassenheit ausstrahlend dem Abt zu.

»Natürlich will ich wissen, wie du Jesus Welt siehst. 

Du hast dich bestimmt lange mit dem Lebenswerk von Jesus beschäftigt. 

Bin auf deine Sicht gespannt und neugierig.«

»Dann soll es so sein«, der Abt lässt eine Pause zu, lächelt und beginnt, 

»wie du bestimmt weißt, wurde Jesus von Nazareth in einer Zeit des Umbruchs geboren. 

Damals gab es unter zwischen den Schriftgelehrten und Pharisäern Streit über den wahren Weg zu Gott. 

Die Römer, Besatzer des Landes, hatten da nicht so ein Problem, sie hatten für ihre diversen Anlässe, 

jeweils den richtigen Gott.«

Der Abt schweigt kurz, schaut Dominik in die Augen, als suche er etwas, bevor er weiterspricht.

»In seinen ersten Lebensjahren nahm Jesus die unterschiedlichsten Strömungen im Leben der Menschen und 

ihrer Religionen wahr. Er erkannte immer mehr, wie der Abstand zwischen Gott und 

den Menschen immer größer wurde. Immer heftiger spürte er, dass er einen Weg finden musste, 

Gott und Menschen zu versöhnen. Immer weniger konnte er verleugnen, 

dass seine eigene Vorstellung über Gott, die der Pharisäer und der damaligen Hohepriester, 

immer stärker voneinander abwichen. Um zu verstehen wurde er Schüler in den verschiedenen Schulen, 

die Theologie, Philosophie und Politik lehrten. Dabei wurde ihm außerdem bewusst, 

wie groß der Abstand zwischen den gelebten Werten, dem gelehrten Wissen und ihrem Handeln, 

immer weniger im Einklang mit seiner Vorstellung von Gott war. 

In dieser Zeit nahm nicht nur sein Zorn zu, sondern auch der Zweifel. 

Beides nahm einen immer größeren Raum in seinem Leben ein.«

»Wieso wurde Jesus zornig? Müsste er nicht Abstand zur menschlichen Welt haben und 

als Gottes Sohn über den Dingen stehen?«

Irritation ist im Gesicht des Abtes abzulesen. 

Um sich zu sammeln greift er nach seinem Weinglas und trinkt einen langen Schluck. 

Langsam stellt er das Glas auf die dicke Tischplatte aus Eichenholz zurück und 

nimmt seinen Faden wieder auf indem er wiederholt was er schon gesagt hat. 

Die Stimme Benedikts hat, einen für Dominik spürbaren negativen Unterton.

»Der Wein aus eurem Weinkeller ist wirklich exzellent«, sagt er leise. 

Benedikt ist kurz verunsichert, schüttelt den Kopf und greift den Faden erneut auf. 

»Nun Dominik, ich dachte wir haben uns darauf geeinigt, dass in der Bibel steht, 

Gottes Sohn wurde als Mensch geboren, mit all seinen Stärken und Schwächen. 

Indem er menschlich fühlt und denkt ist es ihm möglich sich 

in die Psyche eines Menschen hineinzudenken«, der Abt atmet und achtsam tief ein, 

»und zum Menschsein gehört nun mal unter anderem der Zorn!« 

»Nun du bist offensichtlich ein Mensch«, Dominik lächelt, »ich habe es nicht so gemeint. 

Du sollest wissen, ich kenne viele Religionen und der Zweifel welche nun die wahre Lehre ist, 

begleitet mich schon lange auf meinem Weg.«

Dominik beugt sich nach vorne, sieht direkt in Benedikts Augen.

»War nicht einer seiner Hauptaufgaben stellvertretend für unsere Sünden zu sterben.«

»Tatsächlich«, Benedikt löst seinen Blick von Dominik, »doch kommen wir zurück zu Jesus. 

Seine Suche war nicht die Suche nach Sinn und Dasein, dies war ihm schon früh deutlich, 

seine Suche galt der Frage, wie kann ich Menschen auf den wahren Pfad führen, 

den du ja offensichtlich auch suchst, auf dem all ihre Fragen nach dem Warum, 

Wieso und Wohin beantwortet werden.«

Benedikt verstummt, um zu sehen wie seine Worte auf sein Gegenüber wirken. 

Dieser schweigt abwartend.

»Kommen wir zum entscheidenden Moment im Leben von Jesus. 

Zu dem Ort an dem er erleuchtet wurde, der Wüste.«

»Ehrlich Benedikt, kam Jesus nicht erleuchtet auf die Welt«, unterbricht Dominik 

den Gedankengang des Abtes.

»Dominik, hast du dich ernsthaft mit dem Christentum und der Bibel auseinandergesetzt?«

»Nun nicht studiert im üblichen Sinne, doch ich glaube soweit dies in der heutigen Zeit von Belang ist, 

kenne ich die allgemein wichtigen Inhalte der Bibel.« 

»Nun wie auch immer«, der Abt entlässt unüberhörbar einen tiefen Seufzer, bevor er weiterspricht, 

»Jesus wurde vom Heiligen Geist, der die Suche Jesus begleitete, in die Wüste geführt. 

Nach seinen Erfahrungen an diesem Ort trat er, wie du bestimmt weißt, 

mit ungefähr achtundzwanzig Lebensjahren, in der Öffentlichkeit auf.« 

Benedikt stoppt mit einer Handbewegung Dominik, der offensichtlich erneut unterbrechen will, 

»lass mich meine Gedanken weiter ausführen. Auf der Suche nach Erkenntnis, 

führte der Heilige Geist ihn an den Jordan, dort hatte ihn Johannes getauft. 

Während Jesus den Weg der Taufe noch einmal in sich Revue passieren ließ, 

bekam er eine neue Sicht auf sich selbst und er begann zu verstehen. 

Doch kommen wir zurück zu der wichtigsten Station seines Weges in die Wüste. 

Vierzig Tage verbrachte Jesus dort. Im Laufe dieser Zeit wurde Gottes Sohn mit Satan konfrontiert. 

Dieser spricht auf bildhafte Weise, will Jesus in Versuchung bringen und ihn auf seine Seite zu ziehen. 

Der Teufel kannte die Absicht Gottes. Er weiß, Gott hat seinen Sohn in die Welt gesandt, 

um die Menschen von der Erbsünde zu befreien, sie auf den rechten Weg zu führen und 

seinen Einfluss zu zerstören.«

Benedikt greift nach seinem Weinglas, befeuchtet Lippen und Kehle damit und spricht weiter. 

Dominik hat aufmerksam zugehört.

»Also Satan will Gottes Sohn vom göttlichen Weg abbringen. Er verspricht ihm Reichtum, Ehre und Macht. 

Hinter all den Angeboten verbirgt Satan seine persönlichen Absichten. 

Ja er will Jesus vor dem Volk groß machen, aber nicht auf göttliche Weise, 

sondern er soll die Menschen überzeugen, dass sie auf seine Weise leben. 

Dies bedeutet weiter gegen die zehn Gebote zu verstoßen. Jesus erkennt die Absicht des Satans. 

Der Preis den er für Reichtum, Ehre und Macht; die auf der Gunst des Teufels beruhen, ist zu hoch. 

Es gibt wohl keinen Menschen, der ganz der Versuchung widerstehen kann. 

Doch Jesus hat es uns gezeigt, wie es geht. Jesus Christus war dem Vater gehorsam. 

Bis zum Tod, bis zum Tod am Kreuz.«

»An einen Teil dieser Geschichte erinnere ich mich«, murmelt Dominik leise vor sich hin.

Abt Benedikt ist für einen Moment irritiert und unterbricht seine Schilderung 

bevor er nach kurzem Nachdenken weiterspricht.

»Wenn du dich genauer darüber informieren willst wie Satan Jesus in Versuchung bringen wollte, 

schau in die Bibel und lese Matthäus Kapitel 4 Vers 1-8.«

»Das würde ich gerne tun«, Dominik lächelt, »wenn du mir eine Bibel leihst.«

»Gerne.  Nun Jesus durchschaute die Versuchungen des Teufels und 

verließ nach vierzig Tagen die Wüste, erleuchtet und unbeschadet. 

In seinen späteren Predigten berichtete er den Menschen, gestärkt durch seine Erfahrungen, 

dass die List der Schlange fehlschlägt, wenn wir im Glauben an Gott gefestigt sind. 

Wir wissen außerdem durch ihn, wie scheinbar gute Dinge vom Teufel zum Bösen gewendet werden. 

Er predigte den Juden, seit vorsichtig und fallt nicht auf die durchschaubaren Sprüche des Teufels herein. 

Dieser verspricht euch irdisches Glück, verlangt offensichtlich nichts dafür, 

später fordert er einen hohen Preis. Eure Seele. Jesus predigte von Gott, und sprach«, 

Benedikt verstummt für einen Augenblick, sucht nach den richtigen Worten, 

»er predigte; Du sollst Jehova, deinen Gott, lieben mit deinem ganzen Herzen und 

mit deiner ganzen Seele und mit deinem ganzen Sinn und mit deiner ganzen Kraft. 

Wer an ihn glaubt dem schenkt er in seiner Güte und Liebe, das wahre Leben.« 

Dominik räusperte sich und Benedikt verstummte.

»Wenn ich dich richtig verstehe«, erwiderte Dominik nach einem Augenblick des Nachdenkens, 

»wolltest du mir zu mitteilen, dass Jesus ein Suchender war, wie so viele Menschen und 

seinen Weg gefunden hat. Allerdings mit Unterstützung, die bestimmt nicht jedem gewährt wird. 

Wenn ich mich richtig erinnere bekam er Hilfe, vom Heiligen Geist. Was ist mit uns normalen Menschen?«

»Du kannst darauf vertrauen«, sagt Benedikt mit sanfter Stimme, »jeder der sich auf die Suche begibt, 

bekommt die Hilfe auf seinem Weg, die seiner Entwicklung entspricht. Niemandem wird mehr aufgebürdet, 

als er tragen kann.«

Im Hintergrund ist eine Glocke zu hören. Unaufgefordert zählen beide die Schläge mit.

»Vier Uhr«, sagt Benedikt nachdem der letzte Schlag in der Dunkelheit der Nacht verklang, 

»ich denke wir sollten schlafen gehen.« 

Bei dem Wort schlafen wird Dominik bewusst, sein müder Körper verlangt nach Schlaf. 

»Du hast recht,« ein kräftiges Ausatmen bekräftigt seine Zustimmung, 

»mein Körper benötigt dringend Ruhe. 

Wir können ja morgen Abend über die noch anstehenden Fragen weiterreden.«

Synchron greifen sie nach ihren Weingläsern, trinken einen letzten Schluck, stellen die Gläser zurück, 

stehen auf, wünschen sich angenehme Träume. 

Anschließend ziehen sie sich in ihre Kemenaten zurück.

 

  

Was geschieht während wir Träumen

        

 

Mein Name ist Dominik.

Ich bin Dominik.

Ich war Dominik.

Ich werde Dominik sein. 

******

 


Lesestoff liegt auf meinem Nachttisch. 

Hamlet.  

Eine Herausforderung, doch ich freue mich darauf. 

Schon nach der ersten Seite bin ich sicher, Shakespeare wird mich nicht enttäuschen. 

Seine Sprache ist nicht einfach zu verstehen und vielleicht gerade deswegen so anziehend. 

Doch ich bin bereit zuzulassen und in seine Welt einzutauchen. 

Vor einiger Zeit hatte ich mir vorgenommen von den Erwartungen und Vorstellungen der Menschen 

aus früheren und heutigen Zeiten mehr zu erfahren. Ich fing an die unterschiedlichsten Bücher zu lesen. 

Zuerst Belletristik dann Sachliteratur. 

Eine halbe Stunde mit Shakespeare ist vergangen und ich bin in der, aus meiner Sicht, 

befremdlichen Welt der Gedanken versunken und je länger ich lese, umso ungewöhnlicher kommt es mir vor, 

auf welchem Niveau früher Begegnungen mit sich und anderen formuliert wurden. 

Schließlich erreicht mich die ersehnte Müdigkeit und ich lege das Buch auf den Nachttisch. 

Um der zu spürenden Kälte auf meiner Haut zu entkommen, tauche ich tiefer unter meine Decke. 

Auf dem Weg die verschiedenen Ebenen zum Tiefschlaf zu durchlaufen, hält mich eine Passage des gelesenen fest. 

Diese Stelle hat sich auf verschlungen Pfaden besonders intensiv in meinen Cortex verbissen. 

Unablässig kreisen Worte durch mein Gedankenuniversum. 

Um endlich Ruhe zu finden resümiere ich den gelesenen Text leise vor mich hin. 

So wie er in mir seinen Niederschlag gefunden hat. 

Sterben - schlafen - schlafen! Vielleicht auch träumen! 

Ja, da liegt's; was im Schlaf für Träume auch kommen mögen, wenn wir den Drang des Irdischen abgeschüttelt haben, 

zwingt uns der Schlaf stillzustehen. Das ist die Rücksicht, die Kraft des Schlafes unser Elend zu vergessen. 

Im Traum können wir die Zeiten von Spott und Geißel loslassen, die wir als Erinnerung in uns tragen. 

Wir können den Druck der Mächtigen, Misshandlungen, verschmähte Liebe und Pein hinnehmen oder uns wehren. 

Wer jedoch irgendeinen gerechten Aufschub erwartet, den Übermut der Ämter und die Schmach verdrängt, 

den Unwert schweigend Verdienst nicht erkennt, der verändert seine Welt auch im Schlaf nicht. 

Wer glaubt, wir können uns selbst in den Ruhestand versetzen mit einer Nadel bloß, der irrt. 

Nur die Furcht vor etwas nach dem Tod - das unentdeckte Land, von dem Bezirk kein Wanderer wiederkehrt - 

lässt dem Willen seine Kraft. Die Übel, die wir haben, ertragen wir lieber als zu Unbekanntem zu fliehen.

Schließlich verliert sich der Text von Shakespeare im Irgendwo. 

Obwohl es allmählich still in mir wird, will sich der Schlaf nicht einstellen. 

Um keine Schäfchen zu zählen öffne ich meine Augen und betrachte den Traumfänger an der Decke. 

Langsam dreht sich dieser im Mondlicht. Einmal im, dann wieder gegen den Uhrzeigersinn. 

Tief atme ich die kalte Nachtluft ein, die durch das offene Fenster ins Schlafzimmer gleitet. Endlich schlafe ich ein. 

Das vage Gefühl, bevor ich schließlich in die Tiefen des Schlafes hinabtauche, ist, dass ein Teil meines Seins sich löst. 

Mein Bewusstsein spaltet sich und begibt sich, nicht ganz freiwillig, auf eine nächtliche Reise durch das Traumland.

Als ich Stunden später aufwache weiß jede Faser meines Seins, ich hatte einen ungewöhnlichen Traum. 

Doch ich erinnere mich nicht wirklich, denn ein diffuser Nebel verhindert eine Sicht auf diesen Traum. 

 

******


Albtraum

Ich lasse mich treiben, bis ich einen vom Mondlicht erhelltem Raum erreiche. 

Das fahle Licht gibt dem Raum etwas Unwirkliches. 

Die Luft die ich einatme schmeckt metallisch. 

Der Geschmack ist unangenehm, weshalb mein Atem flacher wird. 

Ein raschelndes Geräusch lässt mich aufhorchen. 

Der Versuch den Ursprung des Geräusches herauszufinden ist vergebens. 

Hinter dem fahlen Licht, spüre ich jetzt nur beklemmende Stille, 

die immer unwirklicher auf mich einwirkt. 

Um mir einen Eindruck zu verschaffen, über den Ort der mich umgibt, gebe ich meine Sinne frei. 

Ich fühle Kälte die meinen Körper erobert. 

Ich sehe an den Wänden, die wenige Meter von mir entfernt sind, 

Tapeten die sich teilweise abgelöst haben. 

An den freien Stellen ist ein baufälliges, feuchtes Gemäuer zu erkennen. 

Ich rieche Schimmel und Verfall.

Ich höre – nichts.  

Wieso bin ich hier? 

Bevor ich eine Antwort finden kann, dringt ein unangenehmes Gefühl in mein Bewusstsein. 

Etwas scheint meine Beine abzutasten. 

Dieses Etwas steigt langsam an mir hoch und nimmt einen immer größeren Teil 

meiner Aufmerksamkeit ein. 

Bis ein heftiger Luftzug mich berührt. 

Erschrocken will ich zurückweichen. Vergeblich. Das Etwas hält mich fest. 

Zersplitterndes Glas lässt mich aufhorchen. 

Irgendwo muss eine Scheibe zerbrochen sein, ist mein erster Gedanke. 

Bin ich nicht allein in diesem heruntergekommenen Geisterhaus?

Dieser Name erscheint mir fürs erste stimmig. 

Meine innere Unruhe verstärkt sich und ich versuche ihr Einhalt zu gebieten, 

indem ich langsam ein- und ausatme. Mich zu entspannen gelingt mir allerdings nur ungenügend. 

Plötzlich glaube ich zu schweben. Mein Kontakt zum Boden geht verloren.

Wie ist das möglich? 

Als ich nach unten schaue sehe ich irritiert dichten Nebel in dem die Hälfte meiner Beine verschwunden ist. 

Bei dem Anblick verkrampft sich mein Magen. 

Einem Impuls nachgebend versuche ich dem Nebel zu entkommen, 

indem ich mit den Armen in der Luft herumrudere. 

Zu meiner Überraschung kommt tatsächlich Bewegung in meinen Körper. 

Langsam bewege ich mich Richtung Decke. Der Mond, blutrot, taucht in meinem Sichtfeld auf. 

Fasziniert versuche ich den Anblick festzuhalten, 

da tauchen im fahlen Licht des Mondes silbrig glänzende Fäden auf. 

Schnell erkenne ich, sie bilden ein Netz. 

Kurz bevor ich die Decke erreiche stoppt dieses meine Aufwärtsbewegung. 

Leichte Panik greift nach mir und ich versuche mich von den klebrigen Fäden zu befreien. 

Allerdings, je heftiger ich mich befreien will, umso tiefer verheddere ich mich im Spinnennetz. 

Immer deutlicher spüre ich den klebrigen Schleim 

der sich auf meiner Haut ausbreitet und ein widerliches Gefühl hinterlässt. 

Tiefgreifender Ekel nimmt von mir besitz. 

Angewidert versuche ich mich irgendwie aus meiner Situation zu lösen. 

Dabei verheddere mich allerdings immer stärker in der Falle, in die ich geraten bin.

Je mehr ich mich gegen eine vermeindliche Gefangenschaft wehre, 

umso mehr verwickele ich mich im Netz der Spinne. 

Jedes Mal, wenn ich einen Faden zerrrissen habe und glaube frei zu sein, 

schlingt sich ein anderer dieser klebrigen Fäden, um meine Hände, meine Arme und mein Gesicht. 

Schließlich gebe ich auf, lasse zu. Wie eine Fliege bleibe ich hilflos im Netz kleben. 

Mein Atem stockt. Mein Puls überschreitet jedes normale Maß.

Zur Beute bin ich geworden! 

Vibrationen erreichen meinen Körper. 

Ich ahne es mehr, als dass ich es weiß, mein Feind bewegt sich auf mich zu. 

Seltsam facettenartige Augen tauchen in meinem begrenzten Blickfeld auf und taxieren mich.

Sie fragen, bin ich als Beute wertvoll? 

Ich habe solche Augen schon einmal auf einer Fotografie gesehen und weiß wem sie gehören. 

Die Augen entfernen sich und ich erkenne eine Art Zange. 

Sie greift nach mir. 

Erschrocken versuche ich auszuweichen. Sinnlos. Plötzlich beginne ich mich zu drehen. 

Der Versuch meine weitere Zukunft zu beeinflussen erweist sich als wirkungslos. 

Ein haariges Bein taucht über meinem Gesicht auf. 

Noch während ich versuche meinem Traum eine neue Richtung zu geben, 

versinke ich in die Tiefe.

 



Wir schreiben das Jahr 2095.

Nein, so sollte ich nicht beginnen. 

Heute, im Jahr 2095, schreibe ich meine Geschichte nieder ist näher an der Wahrheit. 

Ob Du im Jahre 2095 n. Chr. lebst oder vielleicht früher gelebt hast, ob dies deine Gegenwart ist, kann ich nicht wissen. 

Doch was ich weiß, Zeit ist relativ, niemand kann sie festhalten!

Eines kann ich über die Zeit allerdings sagen, sie ist unberechenbar.

Ein langes Leben liegt hinter mir und meine Erinnerungen beginnen zu verblassen. 

Möglicherweise flüstert mir deshalb seit einiger Zeit eine innere Stimme zu, 

ich soll über meine Vergangenheit berichten, die gleichzeitig Zukunft und Gegenwart ist.

Vergangenheit – Gegenwart – Zukunft jeder Augenblick ist gleichzeitig?

Du bist erstaunt, verwirrt?

Wie kann dies sein?

Zeit ist ein Fluss! 

Ihr Ursprung beginnt an der Quelle und endet in der Unendlichkeit.

Ist diese Sicht richtig?

Wenn die Zeit immer Gleichzeitig ist!

Doch wenn es so ist, lässt sich dann die Möglichkeit an Zeitreisen denken?

Zeitreise?

Traumreise?

Welchen Unterschied gibt es da?

Mein Leben, über welches ich erzählen werde, gab mir Klarheit, 

im Jetzt und Hier kann ich Reisen dieser Art nicht mehr ins Reich der Fabeln verbannen.

Wenn du also ohne Vorbehalt, mit Fantasie, gemeinsam mit mir meinen 

Weg gehen wirst, löst meine Geschichte vielleicht etwas in dir aus. 

Vielleicht kommt dir mein sogar Weg vertraut vor. Vielleicht entdeckst du bisher Unbekanntes in dir. 

Eines kann ich dir versprechen, Erfahrung bedeutet Reichtum. 

Noch eine Bemerkung bevor wir den ersten Schritt tun. 

Diese Geschichte hat, wie die Zeit, keinen Anfang und kein Ende. 

Leben ist ein endloser Fluss und wir erleben immer nur einen Ausschnitt vom Ganzen, 

weshalb ich den Zeitpunkt nicht exakt festlegen kann, 

an dem mein Schicksal unbemerkt in mein Leben eingriff und mein Leben eine sonderbare Qualität bekam.

Soviel kann ich schon jetzt schreiben, mein Leben bewegte sich, 

überraschend für mich, vorwärts und wieder zurück. 

Alles woran ich glaubte bekam unerwartet eine neue Qualität.

Genug der Vorrede.

Ich wünsche dir, bevor du dich endgültig auf das Buch einlässt, 

dass du über die Art wie du Zeit wahrnimmst, ernsthaft nachdenkst.

                                                                                                           




 Khalwat dar anjuman 

 Gehe in die Welt.

                                                                                                                              Doch lass nichts an Dir haften.                                                                                                                           

 16

 

Wer dem Meer vertraut, kennt es nicht

 

E

in Möwenschrei erreicht seine weit entfernten dunklen Gedanken und reißt ihn aus seinen Träumen. 

Es ist nicht das erste Mal, dass er auf diese Weise aus seinen Träumen aufgeschreckt wird. 

Orientierung suchend hebt er seinen Kopf und blickt hinauf zum azurblauen Himmel. 

Es dauert einige Sekunden, bis die ganze majestätische Schönheit des Himmels in seinen Verstand eindringt. 

Doch Schönheit interessiert ihn jetzt nicht. 

Seit ihm Gott das Schönste in seinem Leben genommen hat, 

ist sein Interesse an irgendwelcher Schönheit in die Tiefen seiner verdunkelten Seele abgetaucht. 

Nur eines interessiert ihn, wenn er nach oben blickt, 

weshalb begrenzt dieses intensive Blau seinen Blick in die Unendlichkeit. 

Allzu gerne würde er Gott, von Angesicht zu Angesicht verfluchen. 

Um seinen Ärger auf jemanden projizieren zu können, sucht er den Himmel nach der Möwe ab, 

die ihn so unsanft aus seinen Erinnerungen gerissen hat. 

Weit oben entdeckt er eine größere Schar Möwen. 

Gleichmäßig ziehen sie ihre Kreise, als hätten sie alle Zeit der Welt. 

Immer wieder stößt eine von ihnen einen grellen Schrei aus. Sie scheinen mit sich in Balance zu sein. 

Ganz im Gegenteil zu ihm. 

Harmonie, Schönheit, diese Worte bereiten ihm jedes Mal Schmerz wenn ihn die Welt damit konfrontiert. 

Der aufsteigende Unmut, der sich in ihm ausbreitet, wenn er Harmonie und Schönheit begegnet, 

hat sich in den letzten Wochen zwar leicht abgeschwächt, doch er war noch da. 

Er schickt den Möwen einen halbherzigen Gruß hinauf und beobachtet, wie ein Vogel tiefer sinkt. 

Mit Verzögerung folgen ihm die anderen Möwen. 

Mit jedem Meter, den die Vögel sich dem Meer nähern, wird ihre Flugbahn ungleichmäßiger. 

Offensichtlich suchen sie aufmerksam die Wasseroberfläche nach Nahrung ab.

Er verliert das Interesse an den Vögeln und schließt seine Augen. 

Tief atmet er die salzhaltige Luft ein, die eine schwache Brise zu ihm herüberweht. 

Schließlich öffnet er die Augen und beobachtet, wie zwei, 

drei Möwen sich plötzlich pfeilschnell ins Wasser fallen lassen. 

Der Rest der Vögel zieht weiter seine Kreise. 

Schließlich geben die Möwen ihre sich immer wiederholenden Flugbewegungen auf 

und fliegen auf ihn zu. 

Er schaut dem jetzt nicht mehr so harmonischen Flug der Möwen noch ein wenig zu. 

Schließlich erfasst ihn eine gewisse Gleichgültigkeit 

und er wendet seine Aufmerksamkeit von der Möwenmeute ab 

und blickt stattdessen hinaus auf den weit entfernten Horizont. 

Gedankenverloren vergräbt er seine Hände in den sich erwärmenden Sand. 

Das Gefühl von Verbundenheit mit dem Strand breitet sich in ihm aus und er lässt sie im Sand ruhen.

Nach einiger Zeit des Einsseins hebt er, verbunden mit einem kleinen Kraftakt, 

eine Hand und sieht interessiert zu, wie die Sandkörner unaufhaltsam durch seine Finger rieseln. 

Der in seiner Hand nach und nach verrinnende Sand erinnert ihn an die Vergänglichkeit der Zeit.

Warum musste sie sterben?

Tränen lösen sich aus seinen Augen.

Die Erinnerung an den Tag vor einem Jahr ist nicht gut für seinen Gemütszustand. 

Verlassenheit vermählt sich mit Verzweiflung. 

Er spürt einen Kloß im Hals. 

Es wird schwarz vor seinen Augen und er fühlt eine unendliche Leere in sich. 

Von seinen Gefühlen überwältigt, schüttelt er den Kopf. 

Um sich abzulenken, beobachtet er das blausilberne, metallene Wasser, 

das sich eindrucksvoll mit der gelborangefarbenen Sonne vermählt hat. 

Jeden Tag kommt er genau deswegen zu dieser frühen Stunde an den Strand, um diesen Moment zu erleben. 

Dies ist die Zeit, in der er den Frieden und die nötige Ruhe sucht und oft findet, 

um den Rest des Tages zu bewältigen. 

Es ist seltsam, dachte er, obwohl ich mir bewusst war, 

welcher Anlass mich zum ersten Mal an den Strand geführt hat und ich nur wiederstrebend herkam, 

zieht es mich nun jeden Morgen zu dieser frühen Stunde hier her. 

Der Widerspruch seiner Handlung ist ihm durchaus augenfällig und er weiß, 

dass er auf einem schmalen Grat wandelt. Doch er kann und will diese Grenzerfahrung nicht missen.

Einerseits erinnert ihn das Meer schmerzlich an die tiefe Verletzung seines Herzens, 

und doch, gleichzeitig trägt das Meer auch zur Heilung dieser Wunde bei.

Oh wie kompliziert kann Leben sein.

Auf dem Weg zu diesem Platz hier denkt er oft an seine Freunde und Nachbarn. 

Er kann sich vorstellen, welche Meinung sie zu seinem allmorgendlichen Ausflug haben. 

Er hat Fantasie genug um sich auszumalen, wie es für die Anderen aussieht, dass sie glauben könnten, 

er wolle sich quälen, sich bestrafen, doch er weiß, dem ist nicht so. 

Im Gegenteil, eigentlich ist alles ganz einfach. 

Um zu verstehen, was geschehen ist, musste er an den Ort des Geschehens. Nur hier konnte er die Wahrheit finden. 

Er hatte im Laufe seines Lebens gelernt, dass jede Ursache eine Wirkung hinterlässt, die es zu erkennen galt. 

Aus jeder Erfahrung, und sei es noch so schrecklich, soll der Mensch etwas begreifen lernen. 

Seitdem er Zeit mit dem Meer und der Sonne verbringt, er hätte es nicht leugnen können, 

ist diese Stunde ein wichtiger Teil seines Lebens geworden. 

Etwas in ihm wirkte, gab ihm seinen Lebenswillen zurück.

Vielleicht ist es die Vorstellung, die immer mehr in ihm reift, dass in der Ewigkeit nichts verloren geht. 

Tag für Tag kehrt sein Vertrauen ein Stückchen mehr zurück.

Morgen für Morgen. 

Am Anfang hatte er sich dagegen gewehrt, seine Wut aufgeben zu müssen, 

doch inzwischen hat sich der Beginn des Tages zu einem Ritual entwickelt. 

Er wollte und konnte diesen Besuch des Strandes nicht mehr missen. 

Trotz all der Trauer, die er in seinem Herzen trägt, wenn er hierherkommt, 

will er das allmorgendliche Schauspiel des Erwachens nicht versäumen. 

Diese frühe Stunde gibt ihm inzwischen mehr, als er je erwartet hatte. 

Die Qual, die er am Anfang beim Anblick des Meeres aushalten musste, 

schwand allmählich und seine Gedanken erweiterten sich über sein eigenes Schicksal hinaus.

Auch heute ist er nicht enttäuscht, wieder hat das Schauspiel, welches Sonne und Meer, 

auf immer neue Weise für ihn aufführen, die erwartete Wirkung. 

Er kann nicht leugnen, allein dieses Ereignis lässt ihn für einen Moment alles Negative vergessen. 

Dazu kommt noch, dass er mit jeder Phase wahrnimmt, während er dieser Inszenierung verfolgt, 

verändert die Sonne mit ihrer Kraft nicht nur die Welt, sondern auch ihn. 

Alle seine Sorgen und Ängste verbinden sich kurzfristig mit einer spirituellen Ebene 

und er ist sich gewiss, dass sie sich im Allsein auflösen. 

Für kurze Zeit fühlt er eine wohltuende Leere in sich.

Sehnsuchtsvoll lässt er das blau des Himmels auf sich wirken und stellt sich vor, 

dass irgendwo dort oben das Tor zu seiner Liebe ist und immer wenn diese Vorstellung seinen Verstand erreicht, 

fällt es ihm nicht besonders schwer, sich einzugestehen, wie unbedeutend seine Ängste im Grunde sind. 

Allein die Größe der Schöpfung, die hier zu ihm spricht, erzählt ihm davon, 

wie unbedeutend so ein Einzelschicksal wie seines für das Ganze sein mag. 

Doch dies ist auch der Moment, an dem seine Akzeptanz aufhört und er mit jeder Faser spürt, 

es gibt irgendwo, es musste ihn geben, einen Gott, dessen Pflicht es ist, 

sich um jeden Einzelnen, um jeden Menschen zu kümmern.

Gott ist die höchste Instanz des Universums und er hat für jede Ursache und ihre Wirkung die Verantwortung. 

Daran glaubt er wieder fest, wenn er auch kurz in seinem Glauben gewankt hatte. 

Das Schicksal des Menschen liegt in Gottes Hand. 

Im Überschwang seiner Gedanken findet seine Hoffnung, die nötigte Nahrung, um ihn sicher werden zu lassen, 

nichts ist für immer verloren. 

Alles wird wiedergeboren. 

Eine Ahnung und die Beobachtung des Lebens um sich herum, sagt ihm, 

alles muss einem Kreislauf unterworfen sein.

Alles vergeht, stirbt, um wieder erneuert zu werden. 

Es ist diese Vorstellung der Ewigkeit und der Unvergänglichkeit, die ihn daran glauben lässt, 

nie ist etwas für immer verloren.

Er ist sich sicher, er wird seiner Liebe wieder begegnen.

Mochten auch Äonen vergehen.

Während er das ewige Rauschen, das Branden des Meeres in sich einlässt, 

glaubt er für einen winzigen Bruchteil der Zeit, 

dem Geheimnis des Lebens auf der Spur zu sein. 

Wenn er im Gleichklang des Meeres atmet, fühlt er sich für Augenblicke der Zeit, als Mensch kompletter. 

Eins mit der Welt.

In diesem Moment lassen die seinen Körper berührenden Sonnenstrahlen ihn sogar vergessen, 

was er niemals und auf keinen Fall, vergessen will. 

Doch auch wenn er es nicht will, lässt er diese Momente zu, denn etwas eigentlich Unfassbares geschieht dann mit ihm. 

Durch die Wärme der Sonne erfährt er auf geheimnisvollen Wegen Trost. 

Und obwohl er keinen Trost will, kann sich diesem Gefühl einfach nicht entziehen.

Eigentlich glaubt er nicht an Wunder. 

Doch dieser winzige Augenblick, kurz nach dem erwachen, erscheint ihm als solches. 

Bis auf den Grund seiner Seele fühlt er sich in diesem Moment befreit. 

Frei und entlastet von jedem Kummer.

Inzwischen ist es über ein Jahr her, dass er sich zum ersten Mal an diesen Platz gesetzt 

und auf das Auftauchen eines Zeichens gewartet hat. 

Er wurde nicht enttäuscht. 

Als er zum ersten Mal das Auftauchen der Sonne über dem weiten Horizont des Meeres erlebte, 

fühlte er sich wie in einer Moschee. 

Ungezählte Tage hat er nun dem Schauspiel beigewohnt, und jedes Mal, 

wenn es vorüber war, ist sein Herz erfüllt mit Sehnsucht, Erwartung und Hoffnung. 

Doch bei aller Größe des Geschehens hielt sich im Hintergrund ein zwiespältiges Gefühl. 

Sein Herz flüsterte ihm regelmäßig zu, es wird noch sehr lange dauern, 

bis du wirklich und endgültig loslassen kannst, die Wunde deiner Seele ist tief und heilt nur langsam.

Wieder ist es ein Schrei, der ihn zurückbringt --- ins Jetzt.

Er zieht seine zweite Hand aus dem Sand. 

Wieder verrinnt der Sand, erinnert an die Vergänglichkeit. 

Doch diesmal bleibt ein kleiner Krebs in seiner Hand zurück. 

Erstaunt betrachtet er diesen eine gewisse Zeit lang. 

Der Winzling bewegt sich nicht. 

Ist er nur vor Angst erstarrt oder hat er diese Daseinsebene schon verlassen?

Ist er tot?

Trauer erfasst ihn.

Musste alles, was mit dem Meer und ihm zu tun hatte --- sterben?

Sanft berührt er den Winzling. Er zuckt zusammen, als sich eine der Zangen bewegt.

Der Kleine lebt!

Ein Lächeln huscht über sein Gesicht. 

Er beobachtet, wie die Zange tastend die Umgebung erforscht. 

Schließlich folgen die Beine und plötzlich kommt eine erstaunlich schnelle Bewegung in den kleinen Krebs. 

Blitzschnell stürzt er sich über den Rand seiner Handfläche, landet im Sand, 

berappelt sich der Kleine außerordentlich rasch und hastet, 

als wüsste er genau, was er will, in Richtung Meer. 

Belustigt folgt er mit den Augen den heroischen Versuch des Krebses, so schnell wie möglich ins Wasser zu gelangen.

Ahnt er eine Gefahr?

Die Möwen!

Er schaut hinauf in den Himmel und sucht ihn diesen nach den Vögeln ab. Dort ist inzwischen Ruhe eingekehrt. 

Die Möwenmeute ist weitergezogen. Er gibt sich der Einsamkeit des Himmels eine Weile hin, 

senkt seinen Blick und sucht im Sand nach dem Krebs. 

Doch dieser ist auf wundersame Weise verschwunden.

Er schaut sich um und entdeckt eine Möwe keine fünf Meter von ihm entfernt. 

Interessiert schaut er zu, wie sie erwartungsvoll am Sandstrand Hin und Her trippelt. 

Seit einiger Zeit ist sie ihm vertraut.

War sie für das Verschwinden des Krebses verantwortlich?

Er wusste, wie nah Leben und Tod an diesem Strand beieinanderlagen. 

>Diesmal hat hoffentlich das Leben gesiegt und der Krebs hat sich in die Weiten des Meeres gerettet<, dachte er. 

Für diese Hoffnung sprach, dass die Möwe, wie immer ihrem täglichen Ritual folgte, und versucht seine Aufmerksamkeit zu gewinnen. 

Die Ablenkung durch die Möwe tat ihm gut. 

Er wendet sich von der Möwe ab und konzentriert sich wieder auf das Meer, 

welches wie immer zu dieser Stunde, ruhig und arglos vor ihm liegt. 

Er entspannt sich beim Betrachten des Wassers und lässt sich auf das erwartungsvolle Rauschen des Meeres ein. 

Stück für Stück erobert das gleichmäßige Rauschen und die salzhaltige Luft sein Denken, lässt eine Sehnsucht in ihm erwachen. 

Schließlich hüllt das Meer seine Sinne ein. 

Der Ozean scheint ihn einladen zu wollen und er ist bereit dieser Einladung folge zu leisten. 

Für einen flüchtigen Moment versteht er seine große Liebe. 

Es gibt keinen Zweifel, das Meer besaß etwas Magisches, etwas Großes. 

Eine unendliche Tiefe und eine Weite, die bis weit hinter den Horizont reicht.

Während er sich der Weite des Ozeans hingibt, taucht das Bild seiner Liebe an seinem inneren Horizont auf. 

Er versucht es zu verdrängen, denn er weiß, was nun kommt. Wie von einer Welle getragen, kommt ihm seine Liebe näher, wird realer. 


Gleichzeitig spürt er den herannahenden Zorn. 

Zum hundertsten Mal begleitet von dem Wissen, 

wie hilflos er doch ist, überschwemmen ihn die unterschiedlichsten Gefühle. 

Das Wissen, das er keine Möglichkeit kannte, mit der er die Vergangenheit verändern könnte, 

verstärkte seine Wut oft in einen nur schwer kontrollierbaren Bereich. 

Der unglückselige Tag wird wieder präsenter. 

Mit aller Kraft wehrt er sich, kämpft gegen die ihn überflutenden Gefühle an. 

Er weiß nicht wie oft er seinen Schmerz, seinen Zorn, dem Meer entgegengeschleudert hat. 

Inzwischen, so sagte auch diesmal sein Verstand, solltest du begreifen und akzeptierten, 

dies ist der falsche Weg mit deiner Verzweiflung umzugehen. 

Im Durcheinander seiner Gefühle, welche ihn im Moment beherrschen, ist es nicht leicht, diese Botschaft zu erkennen. 

Um sich abzulenken, ruft er sich zu, es ist nicht das Meer, das verstehen soll, ich muss verstehen.

Langsam bekommt er seine Gefühle unter Kontrolle.

>Du musst lernen das Geschehene zu akzeptieren.<

Kaum gibt er dieser Erkenntnis Raum, erreicht sein Leiden eine höhere Dimension, eine andere Qualität.

Das Bild verschwindet. 

Stille verwebt sich friedvoll mit seiner inneren Sehnsucht. Ruhiger schaut er auf das Meer. 

Sanfter Wind treibt die Wellen an den Strand. 

Er beobachtet das Hin und Her und fällt in eine leichte Trance.

Hoffnung taucht in ihm auf. 

Hoffnung auf ein Wunder.

Kann das Meer nicht zurückbringen, was es ihm genommen hat?

Er hätte nicht sagen können, wie lange dieser Moment anhielt und er auf etwas Unmögliches hoffte, 

auch die Sinnlosigkeit seines Hoffens wurde ihm nicht bewusst. 

Hätte ihn jemand gefragt, aus welcher Quelle seine Hoffnung gespeist wird, er wäre stumm geblieben. 

Unerwartet, weitere Möwen landen mit lautem Getöse in seiner unmittelbaren Nähe, 

wird er aus seinen trüben Gedanken gerissen. Erstaunt schaut er ihnen zu, 

wie sie nach einer kurzen Orientierungsphase mit tippelnden Schritten scheinbar ziellos, 

die Grenze zwischen Wasser und Land abschreiten. 

Die Möwen kannten zu dieser frühen Stunde offensichtlich keine scheu. 

Er schaut ihrem Treiben belustigt zu und erinnert sich an seine eigene unruhige Nacht. 

Sie lag jetzt hinter ihm, doch er wusste, es warteten noch weitere auf ihn.

 

>>> 

 

Ein ereignisreicher, aufreibender Tag ist vergangen. 

Harun, sein kompletter Name ist Harun al-Hakim, übersetzt bedeutet dies, Aaron der Aufrechte, 

beginnt seinen Tag wie immer am Meeresstrand. 

Er sieht hinüber zu den weißen Klippen. Sieht das Wasser gegen sie anbranden. 

Sein Blick gleitet weiter über das Meer. Angezogen von der Magie des in der Sonne reflektierenden Wassers, 

versucht er zu begreifen.

Wieso?

Ganz allmählich wird er Eins mit dem Meereswasser. Gleichmäßig rauscht es an den Strand, 

um sich gelassen her- und zurückzuziehen. 

Zum ersten Mal wird ihm bewusst, dass das Meer und er im gleichen Rhythmus atmen. 

Ruhig schaut er zum fernen Horizont.

Endete dort alles Leid, jeder Schmerz?

Er wusste es nicht. 

Noch nie war er auf dem Meer. 

Er hatte kein Vertrauen zur Unendlichkeit des Ozeans. 

Er wendet sich vom Horizont ab und lässt sich wieder auf das Atmen des Meeres ein. 

Nachdem er sich im Gleichklang fühlt, wendet er seine Aufmerksamkeit den Möwen zu. 

Auch heute ziehen sie am azurnen Himmel ihre Kreise. 

Plötzlich löst sich eine aus dem Schwarm und fliegt auf ihn zu. Seine Freundin die Möwe. 

Inzwischen gab es Vertrauen zwischen ihnen. Seit ihm dies zum ersten Mal bewusst wurde, 

spürt er, wenn er sie sieht, eine unbestimmte Sehnsucht, die an seinem Herz nagt. 

Auf einmal wird ihm kalt. 

Er lässt sich nach hinten in den Sand fallen. Er will den morgendlichen Sonnenstrahlen Gelegenheit geben, 

seinen Körper zu erobern und zu erwärmen. 

Dankbar nimmt er die Kraft der Sonne in sich auf. Mit geschlossenen Augen träumt er sich in die Vergangenheit. 

Er ist bereit sich seinen Dämonen zu stellen. 

Schritt für Schritt nähert er sich dem Tag, der Stunde, die er sucht. 

Die letzten Stunden mit seiner Liebe kristallisiert sich immer deutlicher aus Hunderten von Erinnerungen heraus. 

Er sitzt mit am Strand. Sie kuschelt sich zärtlich an ihn. Er genießt diese wenigen Minuten des Einsseins. 

Plötzlich springt sie auf. Er hört ihr Geplapper und Lachen. 

Dieser Augenblick bringt ihn zurück in die Wirklichkeit.

Damals und heute. 

Deutlich ist der vergangene Schmerz in seinem Gesicht zu erkennen. 

Es ist als müsste er das Vergangene in diesem Moment erneut erleben. 

Seine Muskeln verkrampfen sich. Seine schwarzen Augen trüben sich. Tränen drängen sich ins Freie. 

Wer genau hinsieht, tiefer blickt, erkennt, es ist nicht Wut die ihn bewegt. 

Es ist intensiv empfundene Trauer die ihn überwältigt. 

Seine geweiteten Nasenflügel, ein weiteres Zeichen für seinen inneren Zustand, nehmen den Geruch des Meeres auf. 

Er riecht Salz, Wasser, Weite und --- verwesende Algen. 

Der Geruch nach Verwesung erinnert ihn. Er erkennt die Sinnlosigkeit seiner Gefühle und lässt los. 

Endgültig kehrt er zurück ins Jetzt. 

Die sterbenden Algen lassen in Harun ein anderes Gefühl entstehen, die er überwunden glaubte. 

Zorn.

Wenn er gekonnt hätte, wie er wollte, hätte er jetzt das vor ihm liegende Meer ausgetrunken, ausgetrocknet. 

Vielleicht hätte er sie so gefunden und beerdigen können. Nichts von ihr war ihm geblieben. 

Eine finstere Ecke in seinem Verstand ließ ihn kurz glauben er könne auf diese Weise seine geliebte Frau zurückgewinnen. 

Wie gerne hätte er sie noch einmal festgehalten. 

Nur langsam beruhigt er sich und blickt auf das offene Meer, 

welches sich unverändert still und unschuldig vor ihm ausbreitet.

Er sucht einen Weg, um seine Gefühle irgendwie zu kontrollieren, doch er findet nichts Greifbares. 

Das einzig beruhigende ist seltsamerweise das Meer. 

Doch ihm ist bewusst, dass dem Meer sein Seelenzustand gleichgültig ist.

Leise schwappt aufgeschäumtes Wasser an den Strand, so als wolle es ihn erreichen, ihn mitnehmen. 

Erinnerungen an das Ungeheuer, welches sich unter der harmlos wirkenden Oberfläche des Meeres verbirgt, 

steigen krakenhaft in seinem Bewusstsein hoch. Langsam verseuchen sie seine Gedanken 

und ruinieren sein Vorhaben innere Ruhe zurückzugewinnen. 

Schließlich verlor er die Kontrolle. 

Es wurde Zeit sich zu stellen. 

Der Konfrontation mit dem Vergangenen immer und immer wieder aus dem Weg zu gehen hatte sich schon lange als sinnlos bewiesen. 

Wenn er sich nicht endlich mit seinem Schmerz auseinandersetzt, würden seine Wunden nie heilen. 

Heute war ihr gemeinsamer Jahrestag.

Würde er heute seinen Durchbruch erleben?

Oder würde dieser Tag ein weiterer verlorener Tag sein? 

Nach Antworten suchend richtet er sich auf. 

Er schüttelt den Kopf, um sich von den ziellosen Gedanken zu befreien. Dabei umspielt sein dichtes silbernes Haar seine Schultern. 

Wie so oft schlägt sein Vorhaben fehl. Negatives und Schatten der Vergangenheit lassen sich nicht einfach abschütteln. 

Zu verwurzelt sind die grauenvollen Bilder in seinem Verstand. 

Während er loslassen will, fühlt er überraschend eine freundliche, liebvolle Schwingung. 

Flutartig bemächtigt sich diese seiner Sinne. 

Irgendwie ist ihm die Schwingung vertraut.

War dies seine Samira?

Um irgendetwas zu tun, fixiert er den Punkt, keine hundert Meter im Meer, an dem es geschah. 

Die vergangene Zeit schrumpft auf einen Punkt zusammen. Gänsehaut bildet sich auf seinem gesamten Körper 

und er möchte all seinen Schmerz auf das Meer hinausbrüllen. 

Die einzige Möglichkeit, wie er aus Erfahrung wusste, um seine Wut zu besänftigen. 

Doch er bekommt keinen Ton heraus. 

Die Bilder, die er sich so ersehnte, aber auch so fürchtete, werden immer plastischer. 

Erneut fühlt er die vertraute Schwingung. Er wir ganz ruhig und plötzlich ist er sicher.

Diesmal wird er siegen!

Er ist nicht allein. 

Er lässt sich fallen und die Bilder zu.

Er sieht wie Samira und er Hand in Hand zum Strand schlendern. Sie sucht nach einem ruhigen Plätzchen, 

findet es und sie breiteten gemeinsam ihre mitgebrachten Decken aus. 

Das Meer glitzert erwartungsvoll in der Sonne und bewegt sich lockend in leichten Wellenbewegungen. 

Er hält das Bild fest und findet ein Stück Frieden. 

Dieser hält Einzug in sein Herz. Er spürt, wie seine Welt allmählich im Gleichklang der Wellen des Meeres schlägt.

Harmonie! 

Wie oft hatten seine geliebte Samira und er Zeiten erlebt, in denen sie im Einklang miteinander waren?

Ohne genau zu wissen woher, wusste, fühlte er, seine große einzige Liebe war ihm ganz nah. 

Gemeinsam würden sie nun einen besonderen, letzten Weg gehen. 

Hoffnung auf ein Wunder lässt ihn entspannen. 

Er weiß, mit ihrer Hilfe ist alles möglich und er würde endlich wieder zu seiner früheren Ruhe zurückfinden. 

Dazu muss er diese Stunde, die er verfluchte, noch einmal durchleben. Erst dann würde er endgültig frei sein. 

Eine kühle Prise erreicht seinen unbekleideten Oberkörper. Dies verdrängt die Wärme der Sonne aus seinem Körper.

Waren hier negative Kräfte am Werk?

Wollte jemand seine Verbindung zu Samira trennen? 

Er ignoriert die Kühle und lauscht stattdessen, gleichmäßig tief atmend, dem Flüstern der Brandung, dem Raunen des Windes. 

Der kühle Wind wird zum Freund. 

Alles ist gut. 

Er schließt die Augen, schaut nach innen und die gesuchten Bilder kehren zurück. 

So plastisch, als wäre er zurückgereist, zum Tag des Unglücks.

Der Tag war gerade angebrochen. Still betrachtet er die sich darbietende Szene. 

Je länger die Bilder auf ihn wirken, umso lichter wird der Schatten des Zweifels, der seine Seele noch immer ein Stück weit bedeckt. 

Er fühlt Tränen an seinen Wangen herunterfließen. Er versetzt ihn in Unruhe, wenn er daran denkt, was bald geschehen wird. 

Als sein inneres System zu schwanken begann, spürt er eine sanfte Berührung. Übergangslos wird er ruhig.

Mit einer kurzen Willensanstrengung überspringt er den schicksalhaften Morgen und es geht etwas vor in seiner Erinnerung. 

Bilder eines späteren Zeitpunktes werden Realität. 

Mitten im Wasser steht, bis zu ihren Hüften, Samira und gibt sich irgendwelchen Albereien hin. 

Immer wieder taucht sie mit dem Kopf unter die Wasseroberfläche, um überraschend, 

mit elegantem Schwung, wieder aufzutauchen. 

Dabei schleudert sie ihre langen Haare Richtung Himmel. Es raubt ihm den Atem, wenn er die Schönheit dieser Szene betrachtet. 

Nach jedem Auftauchen ist er aufs Neue von dem Gleichklang zwischen dem Wasser und ihr verzaubert. 

Der nasse, luftige, aus Seide gefertigte, Sari, schmiegt sich an ihren gertenschlanken Körper 

und lässt mehr von ihrer Schönheit erkennen als ihm lieb ist. 

Nervös schaut er sich um und atmet auf. 

Sie sind allein. 

Stolz durchströmt sein Herz, als er sich an die Zeit erinnert, in der er sie zum ersten Mal traf. 

Er erinnert sich, mit welcher Hartnäckigkeit er sie umwerben musste, 

bevor sie zuließ, dass er sie erobern durfte und wie lange es gedauert hat, bis sie bereit war, ihn zu heiraten. 

Bilder der Hochzeit tauchen auf. 

Gerade noch rechtzeitig war sein Hochzeitsgeschenk fertig geworden. 

Ein Garten, der in allen Farben blühte. Rosen aus aller Welt hatten gerade ihren Höhepunkt der Blüte erreicht. 

Er erinnert sich an den Schimmer, der ihr Gesicht überzogen hatte. 

An ihre strahlenden Augen. 

Er fühlt und spürt noch immer ihre Freude, als er sie einlud, zusammen den Garten zu durchwandern. 

Für ihn gab es keinen Zweifel, dieser Tag war für beide einer ihrer glücklichsten Tage. 

In den ersten Wochen nach ihrer Hochzeit beobachtete er sie, wie sie durch den Garten wandelte, 

pflegend eingriff wenn nötig, sich auf eine Gartenbank setzte und träumte. 

Ihre Liebe und Hingabe zum Garten ließen die Rosen prachtvoll gedeihen. 

Plötzlich veränderten die Bilder ihre Geschwindigkeit. 

Rasend huschen die gemeinsamen glücklichen Tage durch sein Bewusstsein. 

Tage, an denen ihn die Arbeit nicht losließ. 

Tage, an denen er bei ihr zur Ruhe kam. 

Tage in Harmonie. 

Tage, in denen sie diskutierten. Im Rückblick ging es dabei oft um Belangloses. 

Tage, in denen sie sich ohne Erwartung liebten.

Schließlich kommt der schnelle Vorlauf der Bilder zur Ruhe.

Der letzte gemeinsame Tag bildet sich ab.

Dieser Tag, der ihn seit einem Jahr nicht mehr losließ, begann wenig spektakulär. 

Nichts deutete auf das Kommende hin. 

Eine laue Nacht lag hinter ihnen und an diesem Morgen strahlte die Sonne von einem tiefblauen Himmel. 

Ein Tag, der ungeahnte Versprechen beinhaltete, lag vor ihnen. 

Am gestrigen Tag hatte er wieder keine Zeit für seine Frau gehabt. 

Er wollte dies ausgleichen und schlug deshalb seiner Frau vor, 

eigentlich gegen seine Absicht, das Meer zu besuchen, denn er wusste, wie sehr sie das Meer liebte.

Im Gegensatz zu ihr liebte er das Meer nicht besonders. 

Aus Erzählungen seiner Frau wusste er allerdings, dass sie sich in ihrer Kindheit, 

oft mit ihren Schwestern am Meer war. 

Da das Meer nur wenige Kilometer von ihrer Heimstatt entfernt lag 

und er sich nach einem erfolgreichen Geschäft glücklich fühlte, wollte er ihr eine Freude bereiten. 

Er glaubte es war an der Zeit, ihr diesen Wunsch zu erfüllen. Er wollte etwas von seiner Freude abgeben. 

Ihre überschwängliche Reaktion erzählte ihm, es war ihm gelungen. 

Den halben Vormittag war sie aufgeregt und in Erwartung. Konnte es kaum erwarten, endlich wieder das Meer zu sehen. 

Ihr erwartungsvolles, losgelöstes Lachen klang durch alle Räume. 

Sie führte sich wie ein kleines Kind auf, das voller Freude die Geburtstagsgeschenke erwartet.

Schließlich war es so weit. Sie standen am Strand und das Meer breitete sich ruhig vor ihnen aus. 

Freundlich und einladend lag das zum Baden bereite Wasser vor ihnen.

Sie gingen am langen Sandstrand entlang und entdeckten eine kleine Bucht und Samira nahm sie sofort in Besitz. 

Schnell waren die mitgebrachten Utensilien ausgebreitet und sie genossen erst einmal die Sonne. 

Selbstlos erwärmte diese ihre beiden Körper. Samira wurde bald ungeduldig und wollte endlich ins Wasser. 

Sie standen auf und gingen die wenigen Meter zum Wasser. 

Da er kein besonderer Freund des Wassers war, setzte er sich an den Rand des Meeres. 

Seine Frau konnte sich jedoch nicht mehr zurückhalten. Aufgeregt rannte sie in das erwartungsvoll daliegende Meer hinein. 

Ausgelassen planschte sie im Wasser herum.

Nichts deutete auf eine Zukunft hin, die ihnen auf schreckliche Weise, besonders ihm, die Freude nehmen würde. 

Keiner seiner Alarmsysteme schlug an. 

Endlich beruhigte sich Samira und sie stand bewegungslos im Wasser. 

Sanfte Wellen umspielten den geschmeidigen, grazilen Körper seiner Samira. 

Schließlich tauchte sie in das Meer ein, um kurz danach mit hellem Lachen wieder aufzutauchen.

Ihr fröhliches, ausgelassenes Lachen berührte sein Ohr.

Ein Glücksgefühl durchströmte ihn.

Er vergaß seine Abneigung zum Meer.

Amüsiert sah er ihr zu, wie sie sich ins Wasser fallen ließ. 

Die Wellen spülten spielerisch über sie hinweg, um sie anschließend ein Stück hinaus ins Meer zu tragen. 

Für einen kurzen Augenblick verharrte sie im Wasser und er sah, wie sanfte Wellen ihren Busen liebkosten. 

Unerwartet zog sich das Wasser zurück und sie lag fast im trockenen. 

Leichtfüßig, mit einem bezaubernden Strahlen im Gesicht, sprang sie auf, 

drehte sich von ihm weg und lief dem Meer hinterher. 

Doch das Wasser entfernte sich weiter von ihr. Samira blieb stehen und schaute dem fliehenden Meer hinterher. 

Offensichtlich spürte das Wasser ihre Absicht, denn das Meer schien sich zu besinnen und kam zurück. 

Er sah dem Treiben zu und wunderte sich über das seltsame Verhalten des Meeres. 

Auf den Wellen, die nun heranbrandeten, hatte sich ein weißer Schaum gebildet. 

Samiras Lachen wird von den Wellen zu ihm getragen. Sie schien arglos, 

hielt das Ganze offensichtlich für einen Spaß und lief den Wellen entgegen. 

Während sie immer ausgelassener wurde, wurde er immer nervöser. Seine innere Stimme meldete sich. 

Ohne nachzufragen, spürte er, wie die Stimme versuchte, ihn zu warnen.

Nur wovor?

Suchend blickte er sich um. 

Weißer Sandstrand umgab ihn. Kein Mensch, soweit sein Auge schauen konnte. 

Die ihn umgebende Welt strahlte Friedlichkeit aus. Ein gleichmäßiges Flüstern des Meeres erreichte sein Ohr. 

Alles erschien im Gleichgewicht. Nichts deutete auf eine Gefahr hin. 

Doch die Stimme in ihm wurde lauter. 

Beklemmung breitete sich in seiner Magengegend aus. 

Dann, von einem Augenblick zum anderen, erkannte er die Wahrheit. 

Das Meer schwieg. Jede Bewegung des Wassers war erstarrt. 

Auf eine unerklärliche, 

bedrohliche Weise hatte das Meer sich verändert. 

Diese abrupte Wandlung des Meeres musste die Ursache für seine innere Unruhe sein. 

Plötzlich erkannte er, ganz deutlich, er musste etwas tun, 

wollte er die nahende Bedrohung, die vom Meer ausging, aufhalten.

Doch wie?

Wie sollte er das Meer seinen Wünschen unterordnen? 

Das Meer und der weit entfernte Horizont flößten ihm eine fürchterliche Angst ein. 

Von einer inneren Unruhe getrieben stand er auf und rief den Namen seiner Frau gegen den Wind des Meeres.

»Samira, Samira, Samira.«

Sie reagierte nicht,

Mit aller Kraft, die ihm zur Verfügung stand, rief er lang gedehnt ihren Namen hinaus aufs Meer. 

»Saaamiiiraaaa, komm zurück!«

Doch der auflandige Wind trieb seine Stimme von ihr weg. 

Seine Frau lachte, spritzte mit ihren Händen das Wasser in die Höhe, um ihm anschließend zuzuwinken. 

Anstatt auf sein Rufen zu hören, ließ sie sich in die Wellen fallen. Kurzfristig schienen sie ihre Bedrohlichkeit verloren zu haben. 

Auf den Wellen schwimmend ließ sie sich ins Meer hinaustreiben.

»Samira komm zurück!«

Sein Ruf besaß jetzt einen befehlenden Klang.

Sie lachte nur, hörte ihn offensichtlich nicht.

In diesem Moment sah er die Gefahr. 

Eine mannshohe Welle näherte sich. 

Er überwand seine Abneigung gegenüber dem Wasser und stürzte sich, ohne nachzudenken, ins Meer. 

Mühsam kämpfte er gegen den nassen Sand. 

Währenddessen näherte sich die hohe Welle unaufhaltsam Samira. 

Sie drohte die Perle des Orients das Wertvollste, dass er besaß zu verschlingen.

Nur noch fünfzehn Meter trennten ihn von ihr.

Die Welle begann zu steigen. Hob seine Liebe immer höher gen Himmel. 

Auf dem Wellenkamm schwamm seine große Liebe auf dem Gebirge aus Wasser.

In welche Richtung würde sie abrutschen?

Erschöpft, hilflos bleibt er stehen. 

Er ahnt, was nun kommt. 

Tränen quellen aus seinen Augen. Er weiß sie ist leichte Beute für das Ungeheuer aus den Tiefen des Meeres. 

Die Welle brach zusammen und sie stand unerwartet vor ihm. Zum Greifen nahe. 

Er sieht, wie sie erstaunt in seine Augen blickt.

Er wollte auf sie zustürzen, wollte sie der drohenden Gefahr entziehen. 

Doch er konnte sich nicht bewegen. 

Ein Dunkles aus der Hölle stammendes Geräusch bannte ihn auf seinen Platz.

Ohne eingreifen zu können, musste er zusehen, wie das Wassermonster unheilvoll, schnell, erbarmungslos nach seiner Liebe griff. 

Unbeholfen hob er die Arme, doch umsonst, nutzlos, das Monster in Form einer Welle, schlug mit unerbittlicher Kraft zu. 

Von einem Augenblick zum anderen verschlang das Monster seine Frau und sein Leben. 

Er selbst wurde an den Strand zurückgeschleudert. Verwirrt sprang er auf, um zurück ins Meer zu stürzen. 

Er kam nicht weit. Von irgendwoher waren Algen aufgetaucht, in denen er sich verhedderte. 

Er stürzte und blieb auf den Knien liegen. Das Wasser gab gurgelnde Laute von sich.

Endlich beruhigte sich das Meer.

Panik erfasste ihn, er richtete sich auf und schaute sich um.

Nichts!

Er war allein.

Samira war verschwunden. 

Das Ungeheuer Meer, hatte sie weit hinaus, in unendliche Tiefen verschleppt. 

Verloren, hilflos, senkte er seinen Kopf unfähig zu handeln.

Seine Tränen, die sich Bahn brachen, vereinigten sich mit dem Meerwasser. 

Wie lange er vor sich hinstarrte, wie lange er hoffte, wusste er nicht. 

Das Einzige, an das er dachte und sich in seinem Kopf immer wieder und wieder wiederholte, waren die Worte --- nein und warum.

Er war verzweifelt. 

Einsam und verlassen brüllte er seinen Schmerz hinaus in die Weite des Meeres. 

Doch niemand hörte ihn, obwohl er aus Leibeskräften seinen Schmerz in die Welt brüllte. 

In den Momenten, in denen ihn die Kraft verließ, um seinem Schmerz dem Meer entgegen zu schleudern, 

umgab ihn gespenstige Stille. 

Zuerst konnte er es nicht genau wahrnehmen, doch dann spürte er die sanfte Schwingung wieder. 

Die Bilder verblassten. Zurück blieb ein Gefühl des Loslassens. 

Das Rauschen des Meeres scheint in ihm zu sein. Er ist Eins mit dem Meer.

Er ist Eins mit seiner Liebe.

Allmählich findet er zurück ins Jetzt.

»Harun, das ergibt doch keinen Sinn!«

Die tiefe, kräftige Männerstimme ist ihm bekannt. An jedem anderen Tag wäre er zornig geworden, doch heute ist alles anders. 

Es kam ihm vor, als hätte sich ein dunkler Schleier von seiner Seele gelöst, als wäre er nach langer Zeit aufgewacht. 

Er schaut sich um und sieht einen großen Mann vor sich stehen.

»Aiman, du hier? Schön dich zu sehen«, Haruns Stimme klingt fröhlich. 

Aiman ist mehr als überrascht. So hat er seinen Bruder schon lange nicht mehr erlebt. 

Er sieht sich Harun genauer an.

Was ist geschehen?

Schon lange hat sein Bruder sich nicht mehr so ausgeglichen auf ihn gewirkt.

»Komm nach Hause, alle warten auf dich,« die Stimme Aimans klingt zärtlich. 

Harun steht auf und blickt hinaus auf das weite Wasser. Während er sich ein letztes Mal einlässt, glaubt er ein Lied zu hören, 

welches ihm das Meer zuträgt. 

Er hört genauer hin. 

Eine Frauenstimme. 

Er lauscht intensiver. 

Tränen füllen seine Augen. 

Diesmal haben sie jedoch etwas mit einem Glücksgefühl zu tun, denn er hört ganz deutlich die Stimme seiner Frau. 

»Harun --- bitte lebe. Alles ist gut. Sei glücklich.«

Harun lässt den letzten Zweifel los und blickt vom Meer hinauf zum blauen Himmel. 

Seine Seele verströmt ein lange nicht gekanntes Gefühl und er wusste es. 

Seine Liebe war nicht im Meer versunken, sie war aufgestiegen und wartete auf ihn. 

Aiman tritt auf Harun zu und legt seine Hand auf dessen Schulter. 

»Komm Bruder lass uns gehen.«

Harun schaut auf und als erwache er aus einem Traum greift unter seine Galabija und holt behutsam eine langstielige rote Rose heraus. 

»Noch einen Augenblick.«

Mit einer weitausholenden Bewegung wirft er die Rose ins Meer. 

Stumm schauen sie zu, wie die Wellen die Rose davon trägt. 

Mit jedem ein- und ausatmen des Meeres entfernt sich diese weiter von ihnen. 

Es scheint das Meer nimmt die Geste von Harun an. Die beiden Brüder beobachten, 

wie sich die Rose seltsamerweise immer weiter entfernt und sich dem Horizont nähert. 

Jeder der Beiden hängt seinen eigenen Gedanken nach.

»Ich glaube zu verstehen Bruder«, die Stimme Aimans hat einen sakralen Klang. 

Schließlich wenden sie sich ab und gehen nach --- Hause.

 

>>> 

 

Zuerst unbewusst, dann stärker, spüre ich kräftige Finger, die meine Schulter umschließen. 

Der Druck veranlasst mich, mich aus der Welt der Geschichte zu lösen. 

Meine erste unkontrollierte Reaktion ist der Versuch, die Hand abzuschütteln. 

Eine Reaktion, die ich im Ansatz bereue. 

Ich liebe Thomas und mag seine Nähe. Ich will ihm nicht das Gefühl geben, ich wolle ihn zurückstoßen.

»Wo hast du diese Geschichte gefunden.«

Die Frage erstaunt mich genauso, wie das Fehlen eines Signals, dass er meinen Unwillen gespürt hat.

Wie lang steht er schon hinter mir, frage ich mich kurz.

»Sie ist aus einem deiner Tagebücher, Thomas. Warum?«

Ich versuche entspannt zu klingen, will nicht über das gerade erlebt sprechen und Thomas offensichtlich auch nicht, 

denn er stellt mir eine Frage, welche mich überrascht.

»Kann es sein mein Freund, dass du dich wieder mal mit dem Sterben beschäftigst?«

»Vielleicht?«, antworte ich vorsichtig.

Ich drehe mich um und sehe zu Thomas hoch. Ich beobachte, wie seine linke Augenbraue langsam nach oben steigt, kurz innehält, 

um wieder ihren angestammten Platz einzunehmen. Ich fühle mich herausgefordert. 

Glaubt er, eine solche Geste könnte mich beeinflussen? 

Vielleicht, denn tatsächlich kommt mein Gleichgewicht seltsamerweise zurück.

>War er nicht ständig Auslöser von Gedanken über Tod und Leben?<, frage ich mich. 

Laut sage ich.

»Kann sein«, der Klang meiner Stimme hört sich, ich will es eigentlich nicht, noch immer ein bisschen beleidigt an, 

»doch du musst zugeben, seitdem wir zusammen sind, erfahre ich viele Facetten über Leben und Tod. 

Manchmal, und wenn ich ehrlich bin, in letzter Zeit eigentlich ziemlich oft, denke ich tatsächlich über unser Ende, 

über das Sterben nach. Diese Geschichte, nur so als Beispiel, die ich in deinem Tagebuch gefunden habe, 

erzählt über Tod und Leben und über eine die Grenzen überschreitende Liebe. 

Ist es nicht so, dass Liebe, Leben und Tod, Phänomene sind, 

die uns wie Mysterien erscheinen müssen und oft untrennbar unmittelbar verbunden sind? 

Jedes Mal, wenn ich mir sicher bin, ich habe es annähernd verstanden, muss ich feststellen, ich habe keine Ahnung. 

Ich erinnere mich in einem solchen Fall oft an den Spruch, ich weiß, dass ich nichts weiß und deshalb weiß ich schon viel.«

Ich unterbreche mich, um Atem zu holen, um meinem Freund Gelegenheit zur Erwiderung zu geben. 

Thomas schweigt.

»Ist es nicht so, dass du alle Antworten kennst?«

Ich glaube, diese Worte klingen patzig. Doch ich kann nicht anders. Thomas reagiert anders als erwartet. 

Er setzt sich in meinen alten Sessel, bevor er antwortet.

»Aha. Ist dies so?«

Seine Stimme klingt völlig entspannt. Erneut steigt so etwas wie Ärger in mir hoch.

»Natürlich ist das so. Sollte ich dir spontan eine Frage stellen wollen, wäre es eine wie diese. 

Was erwartet mich am Ende meines Weges? Ich bin sicher, du kennst die Antwort auf diese Frage. 

Doch deine Antwort lässt mich bestimmt verwirrter zurück, als ich mich vor der Frage fühlte«, ich schaue Thomas an, 

ein Schmunzeln zeichnet sich auf seinem Gesicht ab.

Bevor er etwas erwidern kann, spreche ich weiter. 

»Ich weiß, du würdest sagen, ich sei nicht verwirrt, sondern entwirrt. 

Manchmal glaube ich dir sogar und denke ich habe erkannt, dann wieder denke ich, 

ich kenne nur eine mögliche Antwort. 

Doch schon entdecke ich den Zweifel und mir entgleitet die Antwort auch schon wieder.«

Thomas schaut mich lange ruhig an und ich versuche, wenigsten einen kleinen Teil seiner Gelassenheit zu gewinnen. 

Schließlich spüre ich eine Reaktion, die seine Entgegnung einleitet. 

»Am Ende welchen Weges? Lass mich nachdenken.«

Das Gefühl, dass Thomas wirklich nachdenkt, kommt bei mir jedoch nicht so wirklich auf. 

Ohne Unterbrechung redet er weiter.

»Es gibt so viele Wege, genau so viele, wie es Möglichkeiten gibt. 

Sind Beschreibungen, subjektive Beschreibungen, der Wege, überhaupt wesentlich? 

Ist nicht unser Gehen auf dem von uns gewähltem Weg entscheidend? Erschafft nicht jeder seinen persönlichen Weg?«

Ein Déjà-vu!

Oder genauer, ein oft Erlebtes Aha-, manchmal Frusterlebnis. 

»Siehst du, das meine ich. Wenn ich glaube, du gibst mir eine einfache Antwort, kommst du mir so. 

Ich weiß, du würdest sagen; es gibt einen Weg des Glücks, einen Weg der Erfahrung 

und einen Weg der Fragen und noch einen Weg der Natur, 

wie auch einen Weg des Glaubens und du weißt bestimmt noch viele Namen, die diese Wege tragen könnten. 

Ich sage, egal welchen Weg wir gehen, am Ende erwartet uns etwas, 

dem wir so lange wie möglich ausweichen möchten, nämlich der Tod. Nach dem Überschreiten des Zieles geschieht nur eines. 

Alles, was wir jemals getan und erfahren haben wird, einfach auslöscht.«

Das Gesicht meines Freundes drückt, trotz meiner Behauptungen oder gerade deswegen, 

Gelassenheit aus, wie immer, wenn er meine Frustration spürt, strömt Sanftmut von ihm zu mir.

Deutlich kann ich seine Wärme spüren.

»Du scheinst verärgert mein Freund. Darf ich trotzdem kurz das Wort Religion in unser Gespräch einführen? W

as sagen die Religionen über den Tod, über einen Übergang des Lebens und was sagen sie uns etwas über ein danach?«

»Welche Religionen?«

Die Frage rutschte mir so heraus. Ich konnte es nicht verhindern. 

Eigentlich wollte ich diese Frage nicht stellen, denn ich wusste, was kommen würde. 

In meinem momentanen Zustand war es für einen Schmusekurs noch zu früh. 

Doch da die Frage nun das Licht der Welt erblickt hatte, musste ich auch das Folgende akzeptieren.

»Na da hätten wir den Islamismus. Die Religion des weltunterwerfenden Kriegers. Das Judentum. 

In dieser Religion herrscht der Glaube an den ewig wandernden Händler. 

Und das Christentum. Christen, die als wandernde Handwerksburschen die Welt bereisen. Oder die Religionen des Ostens. 

Da wäre der Konfuzianismus, Ausdruck eines weltordnenden Bürograten. 

Der Hinduismus, dessen Glauben für den weltordnenden Magier steht. Götter ohne Zahl. 

Abschließend der Buddhismus, dessen Anhänger treten als weltdurchwandernde Bettelmönche auf.«

Unwillkürlich erfasste mich ein Lachanfall, in den Thomas mit einstimmte. 

Schlagartig baute sich die in mir aufgestaute Spannung ab. 

Für einen Moment vergaß ich die Entdeckung im Badezimmer. 

In dieser von aller Bitternis losgelösten Atmosphäre erinnerte ich mich an die Fragen, die mich tatsächlich beschäftigten.

Ist all unser Handeln vorherbestimmt?

Können wir auf unser Leben Einfluss nehmen?

Hatte es Sinn zu lernen?

Wenn ja, was sollten wir vordringlich lernen?

Weshalb sollte es tatsächlich einen Kreislauf des Lebens geben?

Ich schaute Thomas direkt an. 

Er kannte alle Antworten. So kam es mir oft vor. 

Doch eines bereitete mir Unbehagen. 

Alle Antworten kamen für mich aus einer Quelle. 

So plausibel sie auch klingen mochten, war mir dies zu wenig. Wer wirklich wissen wollte, 

so war und ist meine Überzeugung, musste sich auf die ganze Welt einlassen, nicht nur auf eine Person. 

Mag sie noch so gelehrt und erfahren sein.

»Du wirkst etwas nachdenklich, Werner? Was beschäftigt dich?«

»Ach nur die üblichen ultimativen Fragen«, erwiderte ich lachend.

Im Moment war ich auf Antworten nicht scharf.

Ich sicherte meine Datei, fuhr den Computer herunter und schaltete ihn aus. 

Bis zum frühen Morgen leerten wir beide drei Flaschen Wein und ich versöhnte mich mit ihm und der Welt.

Thomas gab mir einen flüchtigen Eindruck auf das Kapitel, welches am Ende des Buches zu finden ist.

Alles ist gut.

Und doch neige ich weiter zum Agnostizismus. 

 

 

 


 

 

                                                                                                Nigãh dãsht

                                                                                                Beobachte. Deine Aufmerksamkeit. 

                                                                                                Beobachte, Welche Dinge sind Dir wichtig.

 

6

Vergangenheit - Gegenwart - Zukunft

  

W

ohlige Wärme umhüllte mich. 

Das unaufdringliche mattgelbe Licht einer Stehlampe und das warme Licht brennender Kerzen, 

denen ein Chanukkaleuchter, schlicht aus Messing gefertigt, halt gaben, 

erfüllte den Raum mit einer ausgewogenen Atmosphäre. 

Besonders lange konnte ich die Umgebung allerdings nicht auf mich wirken lassen. 

Mein Gegenüber, es überraschte mich nicht, dass es mein Freund Lutz war, 

überfiel mich förmlich mit einer seiner stets komplexen Fragen.

»Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Sind dies Zustände in denen wir uns jeweils aufhalten können? 

Wenn ja, wie wirkt sich dies auf unser Leben aus?«

Bevor ich die Frage, deren Tiefe mir ohne große Mühe sofort bewusst wurde, auch nur ansatzweise verarbeiten konnte, dehnte Lutz seine Frage, um eine weitere Komponente aus.

»Ich frage mich,« er schaute mich direkt und ernst an, »oder, genauer formuliert, ich frage Dich, haben die Zustände der Zeit etwas mit unserem Karma zu tun?«

Während ich noch über die schon im Ansatz verästelte Frage nachdachte und eine entsprechende Antwort suchte, gab Lutz mir, bevor ich selbst Gelegenheit hatte zu antworten, die erste Antwort gleich selbst.

»Nun, ich sehe dich irritiert, deshalb gebe ich dir mögliche Antworten vor. Nein, wenn das Nein stimmig ist, müssen wir dies noch herausfinden und nein!«

Lutz schaute mich angriffsbereit an. 

Offensichtlich hielt ihn heute eine besondere Lust, für eine streitbare Debatte, im Griff. Mit einem Lächeln, das aus meiner Irritation Nahrung bezog, tauchte ich tiefer in den Sessel ein und überließ, vorerst, meinem Freund das Feld der Fragen und Antworten. Es gibt Zeiten, da ist Zuhören, Abwarten und Nachdenken und erst anschließend Reagieren, die beste Lösung.

»Widmen wir uns zuerst einmal den Begriff Karma.«

»Nicht Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft?«, unterbrach ich ihn belustigt.

Wieder einmal viel es mir schwer, mich an meine eigenen Regeln zu halten. Lutz ließ sich allerdings nicht irritieren, sondern strickte einfach weiter an seinem Gedankenfaden.

»Wir sind uns doch einig, dass das Karma nichts weiter als eine Erfindung von Religionsführern ist?«

Diesmal gelang es mir, mich zurückzuhalten. 

Mit einem bedächtigen Nicken, dem ich weder ein Ja noch ein Nein zuordnen wollte, gab ich eine stumme Antwort. 

Lutz schaute meinem Nicken zu, ließ allerdings nicht erkennen, ob er mein Zeichen, als Zustimmung oder Ablehnung interpretierte. 

Lutz schloss kurz die Augen, wahrscheinlich um in den Tiefen seines Bewusstseins nach Informationen zur Bereicherung unseres Gespräches zu suchen. 

Ich ließ ihm Zeit, denn mich trieb nichts. Schließlich ging ein Ruck durch seinen Körper, winzig und doch sichtbar. Er befreite sich offensichtlich aus seinem Gedankengespinst, in dem er eine Zeit lang gefangen schien. 

»Nach meinen Informationen entsteht Karma, so schildern es die östlichen Religionen, durch unsere Taten, durch unser Wirken in der Welt. Es wird gebildet aus unseren Entscheidungen, der eine Wahl vorausging. Ursache und Wirkung. Um es in unserem Sprachgebrauch auszudrücken, Karma wird gebildet, geschaffen aus Schuld und Sühne.«

Lutz schwieg. 

Dies nahm ich zum Anlass, mich einzubringen.

»Mit Schuld meinst du aber nicht unser Versagen, aus Unfähigkeit und Unwissen. Und bei der Sühne geht es nicht um göttliche Gnade oder um Strafe aushalten? Doch etwas anderes. Bedeutet Karma nicht, es gibt einen ewigen Kreislauf unserer Leben, aus denen wir uns befreien wollen?«

Lutz stutzte und schaute mir direkt in die Augen. Er erzeugte den Eindruck, als würde er mich erst jetzt richtig wahrnehmen. 

»Genau.«

Mehr sagte Lutz nicht. 

Stattdessen griff er nach Pfeife und Tabak. Etwas umständlich entnahm er dem Beutel eine kleine Portion Tabak und fing an ihn ganz langsam, mit der Hilfe eines Tabakstopfers in den Pfeifenkopf zu drücken. Einige größere Krümel wollten entkommen, doch er gab ihnen keine Chance. 

Einige Momente betrachtete er den Inhalt des aus edlem Holz gefertigten Pfeifenkopfes, schien zufrieden und legte die Pfeife, unangezündet, zurück auf den Beistelltisch. 

»Genau. Mit der Schaffung, mit der Vorstellung eines Karmas wollen die östlichen Religionen, nichts anderes als unsere Freiheit, die wir natürlicherweise haben, einschränken, wenn nicht sogar eliminieren. Indem sie uns Angst einreden, vor etwas Imaginären, nicht Greifbarem, wollen sie Macht über uns bekommen. Wir sprachen von östlich, dies gilt allerdings auch für die westlichen Religionen. Hier ist Karma, gleichzusetzen mit der Schuld, die wir gegenüber Gott auf uns laden.«

Ich richtete mich im Sessel auf, beugte mich leicht nach vorne, kam seiner Intimsphäre näher, wollte mich so unmittelbarer ins Gespräch einzubringen. 

Allerdings bewirkte dies wenig, er gab mir -- noch -- keine Gelegenheit etwas zu erwidern. Sein Eifer ließ sich nicht einfach mit Nähe ersticken. Indem er mir seinen Arm entgegenstreckte, vielleicht um Distanz zu schaffen, wischte er mit ausgestrecktem Finger, jeden, vielleicht, aufkeimenden Widerspruch meinerseits weg.

»Selbstverständlich weiß ich, dass alles dadurch schwieriger wird, da dem Begriff Karma immer wieder modifizierte Bedeutungen zugeordnet werden. Sonst wäre es auch zu einfach. Übrigens, nur mal so zwischendurch, ich weiß eigentlich könnte alles ganz einfach sein, den der Ursprung des Wortes Karma stammt aus dem Sanskrit und bedeutet "Rad". Wir sind ein Teil dieses Rades und als solches, befinden wir uns im ewigen Kreislauf des Lebens. Dieser Kreislauf ist direkt verzahnt mit dem Dharma. Doch wie auch immer es sei, wir bleiben in unserer Denkwelt. Da ist es eigentlich kein Rad, sondern eine Kette aus Ursache und Wirkung. Also eher linear. Unser Verständnis oder mein Verständnis von Karma ist, es ergibt sich aus der Summe unserer Erfahrungen. Daraus, wie wir lernen und gelernt haben in unserem Leben mit Gefühlen, wie Wut, Neid, Hass, aber auch Liebe und Güte, umzugehen. Karma kann in diesem Leben und oder auch im nächsten Leben dadurch neutralisiert werden und darum geht es eigentlich, wir sollten lernen zu verstehen, dass alles NICHTS ist und nichts ALLES ist.«

»Du glaubst an Wiedergeburt?« 

Es platzte aus mir heraus. 

Wiedergeburt war ein Thema, welches mich schon lange beschäftigte. Dies umso mehr, je deutlicher mir meine eigene Endlichkeit bewusst wurde.

Zum ersten Mal an diesem Abend spürte ich, ich habe ihn irritiert. Lutz schloss kurz die Augen. Nach einer fast schmerzhaften Stille griff er seinen Faden wieder auf.

»Dazu später. Ich bin jetzt beim Karma im Zusammenhang mit unserem jetzigen Leben. Welche Bedeutung, welche Auswirkung es auf unser Handeln hat. Zum Beispiel geht es darum, zu erkennen, welche Werte uns in unserer Vergangenheit bestimmt haben. Wie bewerten wir unsere Gegenwart, und wie können wir uns in der Zukunft vorstellen. Sind wir achtsam im Hier und Jetzt? Wie gehen wir mit unseren Gefühlen um?«

»Werte? Ist nicht darauf das Kastensystem in Indien aufgebaut?«

Es ging nicht anders, ich musste ihn erneut unterbrechen. Lutz holte kurz tief Luft und ließ den Atem eine Zeit lang in seiner Lunge wirken. Als er weitersprach, wurde mir klar, ich sollte jetzt nur zuhören, mit- und nachdenken.

»Die Idee von Karma ermöglicht uns, die Aufgaben und ja nochmals unseren Platz«, diesmal unterbrach sich mein Freund selbst, »oder lass mich sagen, dies müsste dir gerecht werden, unseren Entwicklungsstand erkennen.«

»Du meinst«, unterbrach ich Lutz abermals, denn wer weiß, vielleicht vergesse ich bei all der Fülle seiner Gedanken, meinen eigenen Gedanken wieder, »nur um das zu verdeutlichen, den Sinngehalt des Wortes Karma verstehst du so, das Karma ist einmal die Summe unserer Handlungen in der Vergangenheit plus unserer Handlungen in der Gegenwart, beides zusammen ergibt eine Endsumme, die unsere Entwicklung, unser Leid und unsere Chancen in der Zukunft, einem weiteren Leben, bestimmt. Wie müsste unser Handeln also sein?«

Lutz griff nach seiner Pfeife, suchte und fand das Feuerzeug auf dem Tisch, griff danach, zündete sorgfältig den Tabak an. Bedächtig, schon fast andächtig, schaute er dem aufsteigenden Rauch nach. Eine Zeremonie, die mich an etwas fast Vergessenes erinnerte. Nebel und Rauch war in der Vorstellung früherer Generationen eine Möglichkeit eine Verbindung zu den Göttern des Olymps herzustellen. Ich schaute gemeinsam mit Lutz den fein gewebten Wolken nach und verlor mich in ihnen. Dann ging fast synchron ein Ruck durch unsere Körper und Lutz wendete sich mir wieder zu.

»Nun da wäre Gewaltlosigkeit, Wahrhaftigkeit, Geduld, Selbstkontrolle und ich glaube Mildtätigkeit«, merkte Lutz schmunzelnd an und griff nach seinem Weinglas. 

Tabak und Wein, welch Geschmacksmischung?

Nichts für die Götter. 

»All dies sind die Katalysatoren für eine Auflösung des Karmas. Zorn, Machtanspruch, Lüge, Egoismus, verunreinigen, soweit ich das erkennen kann, das Karma. Daher kann ich doch nur ein wahrer Schmied meines Lebens sein, wenn ich mein Handeln selbst überprüfe, immer bei mir bin und weiß, was ich tue.«

Lutz trank einen Schluck und stellte das Glas zurück. 

Ich ergriff die Gelegenheit, mich einzubringen. 

»Religiöse Führer, ich weiß du schätzt sie nicht sehr hoch ein, wollen sie es nicht sein, die uns dabei helfen unsere Schwächen zu erkennen. Uns Anleitungen geben sie zu überwinden? Sie können zwar mein Leben,« ich musste lächeln, »meine Leben, nicht kennen, doch möglicherweise kennen sie ja die Struktur eines Menschen an sich. Bei allem, was sie und wir tun, geht es doch um eine spirituelle Ebene,« schob ich einen weiteren Gedanken nach.

Offensichtlich war er mit meiner Reaktion zufrieden, denn auch er lächelte. Er setzte seine Pfeife an seine Lippen und zog kräftig daran. Durch den entstandenen Rauch schaute er mich nachdenklich an. Offensichtlich lief das Gespräch genau in seine Richtung.

Welche dies auch immer sein sollte?

Schließlich tauchte ein zufriedener Ausdruck auf seinem leicht runden Gesicht auf. Entspannt fuhr er fort. 

»Du hast recht, verlassen wir das Weltliche und nehmen wir uns der spirituellen Ebene an. Sie ist die entscheidende, die eigentliche Ebene, auf der Wachstum stattfinden kann. Wir sind spirituelle Wesen. Die körperliche, materielle Ebene ist zweitrangig. Ja, auf der Ebene des Seins, hat unser Karma Bedeutung.«

»Ich dachte, Karma ist ein Hirngespinst?«

Ich konnte es mir nicht verkneifen. Lutz verdrehte theatralisch seine Augen.

»Falls du es noch nicht bemerkt haben solltest, unser Gespräch bewegt sich gewissermaßen auf einer fünfdimensionalen Ebene. Wir sind weit entfernt vom Alltäglichen, von der Oberfläche des Denkens. 

Du hast sicher bemerkt, ich strebe Tiefe an. Ich versuche den Anfang meines Seins zu finden und hoffe, zusammen mit dir, ein Ende meines Seins, aus unserem Gespräch extrahieren zu können. Karma ist dabei das Bindeglied. Die Idee die sich dahinter offenbart oder versteckt, je nachdem wie du die Welt betrachtest, kann uns vielleicht weit tiefer führen, als eine allgemein übliche Idee von Gott.«

Um sein leicht aufsteigendes Ungleichgewicht unter Kontrolle zu bekommen, nahm Lutz seine Pfeife in die Hand. Scheinbar interessiert schaute er in den Pfeifkopf. Er stellte dabei fest, dass der Tabak sein Feuer verloren hatte. Mit der linken Hand nahm er ohne Hast sein goldenes Gasfeuerzeug vom Tisch, um diesen Zustand zu ändern. Unter Heftigem ziehen am Mundstück, fing der Tabak an zu glühen. Neugierig schaute er sich das Ergebnis seiner Bemühungen an. Zufriedenheit breitete sich, beim Anblick des glühenden Tabaks, auf seinem Gesicht aus. Nachdem er einige Wolken, gebildet aus Rauch, in den Raum entlassen hatte, die Wolken verfolgt hatte, bis sie an die Decke stießen, setzte er seine Gedanken etwas ruhiger fort.

»Gott befindet sich außerhalb von uns, zumindest glauben dies die Meisten und deshalb ungeeignet für Fragen, die uns persönlich betreffen. Beim Karma ist dies anders. Karma betrifft uns ganz persönlich. Wir haben es durch unser eigenes Handeln zu verantworten. Westliche Religionsführer versuchen uns, dies ist mein Eindruck, eigene Verantwortung wegzunehmen, um damit Macht über uns zu bekommen. 

Im Osten ist dies anders, vielleicht liegt es daran, dass ihre Kulturen älter sind als unsere, sie wollen, dass wir Verantwortung selbst übernehmen. Zu unserem Wohle. Ihnen genügt es zu lehren und ihr eigenes Karma zu reinigen.«

»Vergessen wir mal die Religionen. Ich habe so eine Ahnung, als wäre Karma dasselbe, wie das was wir Schicksal nennen.«

Lutz lachte laut auf.

»Nun kommen wir der Sache näher. Doch im Moment möchte ich mich auf diese Gleichsetzung nicht einlassen. Ich finde, wir sollten nicht zu schnell voraneilen. Im Augenblick bitte ich dich halten wir noch ein wenig die Idee fest, Karma ist das Rad, Kreislauf unseres Lebens. Geflochten aus Ursache und Wirkung. Wir geben dem Rad Nahrung durch unser Handeln. Das bedeutet, so sehe ich es, für die Dauer und Größe des Karmas, tragen wir selbst Verantwortung.«

Lutz verstummte und gab den Gedanken Raum. 

Als die Stille ein gewisses Ausmaß annahm, sprach er weiter.

»Dies ist eine mögliche Realität. Doch wie wir gelernt haben, es gibt auch andere vorstellbare Realitäten. Zum Beispiel unsere jetzigen Taten haben keinen Einfluss auf unsere Zukunft. Unsere Taten werden nicht fortgeschrieben. Wir können jederzeit unsere Zukunft ändern. Wir haben nur dieses eine Leben und nach dem Tod gibt es nur Leere.« 

Mein Freund lehnte sich zurück und legte seine Fingerspitzen aufeinander, ihm schien ein neuer Gedanke gekommen zu sein.

»Doch bleiben wir noch ein wenig beim Karma, in seiner«, er unterbrach sich, wahrscheinlich zum Einsammeln flüchtiger Gedanken, »mit den in vielen Publikationen formulierten Ausführungen. Sagen wir es existiert so etwas wie ein Kreislauf tatsächlich. Eine Wiederholung oder fortlaufendes Leben. Reicht es dann, sich einfach hinzusetzen, sich um nichts und niemanden zu kümmern, damit wir unser Karma abbauen können? Ich kann mir das überhaupt nicht vorstellen. Vielleicht ist jetzt der Zeitpunkt darüber nachzudenken, ob Karma mit dem Schicksal verquickt ist. Wenn wir von Schicksal sprechen, wollen wir Verantwortung abschieben. 

Viele sprechen von Schicksal und meinen damit ihre Taten und ihr Handeln liegt in den Händen einer höheren Macht. Sie sprechen dann gerne von Gott. 

Die anderen, die von Karma sprechen glauben an die Verantwortung ihrer Taten und ihres Handelns. Wir, auf der westlichen Hälfte des Planeten, nutzen den glauben an das Schicksal, welches uns schon bei der Geburt zur Seite gestellt wurde, dazu um unser Leben akzeptabler zu gestalten. Wir sagen, das Schicksal ist nicht zu beeinflussen und deshalb müssen wir es hinnehmen. Wir sind überzeugt, alles ist vorherbestimmt und wir können nichts ändern.«

»Doch inzwischen sind doch viele bereit, über ihren Tellerrand hinauszuschauen.« 

Lutz blickte leicht irritiert.

»Das stimmt. Doch ich glaube, so wirklich ist das andere Denken noch nicht bei vielen angekommen, obwohl sie Sehen und Hören können. Wissen in Praxis umzusetzen fällt bekanntermaßen nicht immer leicht.«

Die Lautstärke meines Freundes nahm leicht zu.

»Oder sind nicht dazu in der Lage,« versuchte ich abzumildern.

»Du meinst nicht willens«, unterbrach mich mein Freund ein wenig heftiger als sein sollte.

Ich schaute ihn an, suchte nach seiner sprichwörtlichen Ruhe. Er bemerkte meinen Blick, deutete ihn, griff nach seiner Pfeife, zog daran, versuchte sich zu erden.

»Wie auch immer. Eines bleibt, unser ganz eigenes Handeln im Jetzt entwickelt, entwirft unsere ganz persönliche Zukunft. Die Idee, dass das Karma Ursache ist, für alles, was mir geschieht und es durch mein eigenes Wirken geschaffen wird, erzeugt in mir ein Gefühl der Zustimmung, wie vielleicht bei anderen, das Gefühl der Ablehnung. Schicksal dagegen, wenn wir unser christliches Glaubensgebäude zugrunde legen, ist etwas von außen Kommendes. Schicksal ersetzen wir gerne mit dem Synonym Gott oder das Unabänderliche. Wenn Gott die Verantwortlichkeit für unser Leben übernimmt, liegt es nicht an uns aktiv zu werden.«

Lutz verstummte, um festzustellen, dass seine Pfeife das Feuer verloren hatte.

Schicksal? 

Stille erfüllte den halbdunklen Raum. 

Die Kerzen, die weiterhin ein warmes Licht abgaben, waren um die Hälfte niedergebrannt. Sinnend schaute ich den aufstrebenden Flammen bei ihrer Arbeit, Licht zu spenden, zu. Schließlich ergriff ich das Wort.

»Was mich jetzt mal interessieren würde. Wie bist du ausgerechnet heute auf das Thema Karma gekommen? Ist oder war dies Zufall?«

»Zufall? Was soll Zufall sein? Obwohl, alles ist möglich, wenn wir es uns vorstellen können. Doch kommen wir zum Karma zurück. In den letzten Tagen bin ich, keine Ahnung warum, mehrfach mit diesem Thema konfrontiert worden. Die meisten, mit denen ich intensiver darüber gesprochen habe, sind der Meinung, dass es ein Schicksal gibt. Es ist schuld an den schicksalhaften Umständen, an ihrem Leid und ihren Schmerzen. Diese Ignoranz der Realität, Verantwortung zu übernehmen, wurmt mich, gebe ich gerne zu. Nur wenige scheinen bereit zu sein, seinen Schmerz, seine Schwächen, seine Krankheiten und seine Verluste anzunehmen und sie als Ursache für das eigene Handeln zu akzeptieren. Na ja, vielleicht sollte ich nicht ganz ungerecht sein, einige Wenige sind bereit, das Leben in seiner Ganzheit anzunehmen. Woran liegt es, dass die einen am Schicksal festhalten, im Glauben sie haben dafür keine Verantwortung und die anderen das Karma, die Selbstverantwortung, favorisieren. Wo ist der Unterschied.«

Während mein Freund seine Gedanken ausbreitete, gelang es ihm seiner Pfeife, mit der Hilfe externen Feuers, wieder Leben einzuhauchen.

»Oh ja, jeder hat so seine eigene Realität. Vielleicht fehlt das Wissen, du darfst nicht Sozialisation vergessen«, gab ich zu bedenken.

»Möglich. Deshalb möchte ich mit deiner Hilfe dem Thema näherkommen. Vielleicht wird mir dabei deutlicher, dass das Karma und das Schicksal keine Fesseln, sondern Chancen sind. Eines haben wir ja schon herausgearbeitet, Karma bedeutet Eigenverantwortung und wird durch uns geschaffen, haftet an uns. Wenn allen bewusst wäre, dass unser Handeln, die eigentliche Ursache für all den Schmerz, dem Leiden, der Ungerechtigkeit unserer Welt ist, dann könnten wir vielleicht besser damit umgehen. Wären bestimmt bereit, unser Handeln zu ändern. Dagegen ist die Vorstellung, es gibt ein Schicksal für jeden und es ist unumstößlich, doch sehr selbstgefällig. Zu behaupten wir könnten nichts unternehmen, gegen das Geschehen in unserem Leben, ist doch nichts anderes, als Verantwortung abzulehnen. Rette sich, wer kann, Schicksal zünde das Haus vom Nachbarn an. Mit dem festen Glauben an das Schicksal lässt es sich einfacher leben, mit der Ungerechtigkeit in der Welt. Eine Gegenwehr ist sinnlos. Dies wird für viele wahrscheinlich der wahre Grund sein, daran festzuhalten. Nur so gelingt es, mit all dem Elend umzugehen.

Beim Glauben ans Karma liegt es an uns, unserem Verhalten, hier ist es keine übergeordnete Kraft die bestimmt, nein in diesem Fall bestimme ich, ob ich mich einlasse, ob ich etwas am Elend ändern will.«

Lutz griff nach dem Weinglas. Ich folgte ihm und ergriff meines. Während meine Geschmacksknospen den vollmundigen Wein erforschten, versuchte mein Verstand den Traum, den die Weinrebe einen Sommer lang geträumt hatte, zu ergründen. Die Idee von einem sonnenreichen Sommer entsteht in mir.

»Du erwähntest Chance, Chance inwiefern?«

»Nun, beides, das Karma und das Schicksal entspringen nach meiner Vorstellung derselben Quelle. Diese Quelle ist das Leben an sich. Wenn uns bewusst wird, das Leben ist ein Fluss und wir bestimmen Geschwindigkeit und die Dinge, die wir mittragen, würden wir uns dann nicht anders verhalten? Wenn ich weiß, dass meine Vergangenheit etwas mit meinen jetzigen Schwierigkeiten zu tun hat, würde ich mich dann nicht mehr bemühen eine bessere Zukunft zu leben. Die Chance ist, viele Prüfungen, viele Steine, die im Weg liegen, alles, was mit mir geschieht, mit anderen Augen zu sehen. Vieles könnten wir dann besser verstehen und somit leichter akzeptieren. Wenn wir wüssten, dass wir immer wieder geboren werden, würden wir dann nicht sorgfältiger mit der Welt und der Natur umgehen? Oder?«

Mehrere Leben!

Inzwischen war schon mehrmals der Gedanke an Unsterblichkeit Teil des Gesprächs. Irgendwo in den Tiefen meines Gehirns wurde ein Gong geschlagen. In weit entfernten Schichten meines Bewusstseins hallte der metallene Ton nach. Mit einem Schlag waren alle meine Sinne auf Empfang geschaltet. 

Wiedergeburt!

»Warst du nicht der Meinung, Karma sei Unsinn, nur ein Konstrukt, um Menschen zu manipulieren? Und nun kannst du den Gedanken zulassen, dass die in die Dunkelheit abgetauchte, in vielen Leben gelebte Vergangenheit, auf unsere heutige Gegenwart Einfluss nimmt und sogar unsere Zukunft beeinflusst?«

Ich konnte eine gewisse Erregung, während ich die Fragen stellte, nicht unterdrücken. 

Lutz schaute mich intensiv und nachdenklich an. 

Offensichtlich wurde ihm erst jetzt bewusst, dass seine Ausführungen mein Thema Reinkarnation berührte und er mich so elektrisiert hatte.

»Ich spüre, du bist ein wenig irritiert. Denkst bei Wiedergeburt, an viele gelebte Leben. Doch diese Vorstellung ist nicht unbedingt notwendig, um an Wiedergeburt zu glauben. Im christlichen Glauben wird auch an Wiedergeburt geglaubt. Nur im Christentum ist es eine einmalige Angelegenheit. Soweit ich es verstehe, bedeutet Wiedergeburt in diesem Fall, auf einem höheren Bewusstseinsniveau wiedergeboren zu werden. Doch vergessen wir dies vorerst einmal. Kommen wir zurück zum Karma. Es besteht durchaus die Möglichkeit, dass das Wort Karma sich auf unser jetziges Leben bezieht. 

Welches ja eindeutig aus Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft besteht. Der Gedanke an einen Kreislauf allen Seins wird dadurch nicht negiert, im Gegenteil eher untermauert. Meine Taten in der Jugend, all meine Handlungen, bestimmen in einer kausalen Kette, mein Leben, bis zum Tod. Eigentlich dürftest auch du daran keinen Zweifel haben.«

Lutz zieht kräftig am Mundstück seiner Pfeife, um ein mögliches Verglühen des glimmenden Tabaks zu verhindern. Erfolgreich.

»Ich kann aber nicht leugnen, dass alles auch ganz anders, ganz einfach sein kann. Es besteht auch die Möglichkeit, ganz profan über das Leben und unser Sein zu denken. Alles was wir denken und fühlen, ist Illusion, eine Einbildung. In Wirklichkeit gibt es kein Karma, kein Schicksal, keine vergangenen Leben. Keine Zukunft. Keinen Sinn. Wir werden geboren, wir leben, wir streben, wir sterben --- und dann ist das Spiel aus und vorbei! Wie das Kaninchen im Hut eines Zaubers verschwinden wir ins Nirwana, ins Nichts. Wir alle sind vergangen für alle Zeit. 

Spurlos.«

»Nun nicht so voreilig. Spurlos? Gibt es nicht ein Gesetz der Erhaltung? Energie geht nicht verloren, sie unterliegt dem Wandel der äußeren Erscheinung, doch sie bleibt. Weshalb sollte also Reinkarnation nicht wahr sein? Weshalb ist das abwegig? Alles was wir denken, ist möglich«, brach es aus mir heraus.

Verliere nicht dein Gleichgewicht, rief ich mich zur Ordnung.

»Behaupte ich das? Für mich stellt sich einfach nur die Frage, ist bei all diesen Modellen nicht der Wunsch, Vater des Gedankens? Wollen wir nicht glauben, dass wir alle erneut leben, um unserem jetzigen Leben einen Sinn zu geben? Oder ist vielleicht die Ursache für diesen Glauben darin begründet, dass wir Materielles nicht loslassen können? Wollen wir einfach nicht glauben, dass alle unsere Mühen sinnlos sind und waren? Ich denke, da stimme ich dir gerne zu. Die Idee von einer möglichen Wiedergeburt gibt uns Hoffnung. Es gibt unserem Handeln einen tieferen Sinn. Wir verstehen, weshalb wir all den Schmerz, das Leiden, die Trauer und die Liebe ertragen, erfahren müssen. So brauchen wir die Hoffnung nicht aufgeben. Damit dürfte deutlich sein, warum die Hoffnung zuletzt stirbt. Eines fernen Tages werden wir für unsere Handlungen reichlich belohnt. Bevor du jetzt etwas einwendest, lass mich noch eines anmerken. Nichts von alle dem ist in Stein gemeißelt, jede Vorstellung kann einen realen Hintergrund haben. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft haben so lange nichts mit Karma zu tun, bis zu dem Moment, an dem wir die formulierte Definition als Teil unseres Weltbildes aufnehmen.«

Lutz lehnte sich zurück und sah mich erwartungsvoll an. Doch er musste warten. Es galt, gründlich nachzudenken. Offensichtlich wollte mein Freund keine allzu lange Pause zulassen und konfrontierte mich mit der Frage, für die die Zeit reif war.

»Und nun, lange genug habe ich etwas über das Karma und Schicksal erzählt, jetzt würde ich dich bitten, deine Meinung zum Thema zu äußern? Wie lautet deine Definition?«

Um Lutz meine Bereitschaft zu signalisieren und ihm zu verdeutlichen, dass es jetzt etwas länger dauern könnte, richtete ich mich in meinem Sessel auf.

»Oh, vielen Dank, mein Freund«, ich ließ ein breites Lächeln zu, mit dem ich versuchte eine mögliche herauszuhörende Ironie in meinen Worten abzuschwächen, »einige meiner Gedanken habe ich ja schon eingebracht. Ich glaube, dass das Karma eng mit den kosmischen Gesetzen zu tun hat. Wir haben uns ja schon des Öfteren mit diesen universalen Gesetzen auseinandergesetzt.«

Ich schaute Lutz direkt an. Seine Körperhaltung drückte unverkennbar aus, er war bereit zuzuhören. 

»Oder etwa nicht?«

Er nickte zustimmend, gefolgt von einem Gehauchtem; oh ja.

»Eines der universellen Gesetze ist das Gesetz von Ursache und Wirkung. Ein weiteres Gesetz ist das Gesetz der Dualität. Beide sind in diesem Zusammenhang zu berücksichtigen. Vom Atom bis zum größten Stern, vom noch so unbedeutenden Gedanken bis zur ungeheuerlichsten Tat, alles ist den Gesetzen unterworfen.«

»Gesetzen? Wie viele gibt es denn?«

»Ehrlich. Ich weiß es nicht genau. Vielleicht sind es ja zehn.«

»Du denkst an Moses?«

»Ja die Bibel könnte da ein Hinweis sein. Doch kommen wir zurück zum Gesetz von Ursache und Wirkung. Es wirkt überall und immer. Wenn Harmonie ins Ungleichgewicht gerät, wenn Chaos entsteht, wirkt das Gesetz so lange, bis Gleichgewicht und Harmonie wieder hergestellt ist. Dies größte Gesetz des Universums, das Gesetz der ausgleichenden Harmonien, ist der Grundbaustein allen Karmas.«

In Lutz kam leichte Bewegung.

Wollte er widersprechen? 

Kam wieder eine Frage?

»Was ist Harmonie?«

Wie nebenbei beugte er sich nach vorne und griff nach seinem Weinglas. Setzte es an den Mund und trank mit einem Ausdruck der Erwartung auf seinem Gesicht, einen langen Schluck. Nachdem er das Glas zurückgestellt hatte, signalisierte er mit einem kurzen Wink, vergiss meine Frage, ich bin bereit weiter zuzuhören. 

Ich tat es.

»Jeder Verstoß gegen Gesetze«, ich stutze kurz, denn mir fielen die Gesetze, von Menschen formuliert, ein, »ich will damit sagen, göttliche, kosmische, ethische, universelle Gesetze, wie auch immer du sie benennen willst, hier geht es sicher nicht um ein geklautes Brot oder Fahrrad. Doch ein Zornesausbruch oder Fluchen fallen bestimmt darunter.«

»Bist du sicher?«

»Na ja, ganz sicher bin ich mir nicht. Doch nehmen wir als Beispiel Zorn oder Wut. Dies könnte der Anfang, das Alpha einer Kette sein.«

»Du zweifelst?«

»Eigentlich nicht. Doch wie auch immer, ich bin sicher, wenn ich meinen Zorn auf dich übertrage, wird mein Zorn zu deiner Wut und deine Wut wiederum gibst du weiter und löst vielleicht Ungerechtigkeit aus. Diese Ungerechtigkeit wird zu erneutem Zorn oder Schlimmeren. Am Anfang gab es meinen Zorn, der vielleicht in mir geboren wurde und zum Auslöser wurde, für eine Kette. Am Schluss steht Gewalt. Ein Kreislauf ist entstanden, der so lange wirkt, bis die Disharmonie wieder aufgelöst ist. Harmonien, Disharmonieren, erinnert dich das an etwas?«

Lutz schaute mich an.

»Oh ja, an die vorhin gestellte Frage.«

Ich stutzte und erinnerte mich. 

»Spaßvogel, das meine ich nicht. Nun stellen wir die Antwort erst einmal zurück. Bleiben wir beim Karma.

Welches erschaffen wird durch die Ursache, genannt Zorn und der Wirkung, genannt Gewalt. Je heftiger, je stärker wir negative Energien freisetzen, desto stärker werden positive Kräfte zum Ausgleich ausgelöst. Entscheidend dabei ist, das Weltengefüge gerät in ein chaotisches System. Hier berühren wir übrigens das Gesetz der Dualität. Neues möchte geboren werden, Altes wird sterben.«

»Klingt wirklich interessant.«

Lutz griff zum Weinglas. Ich tat´s ihm gleich und wir beide gaben uns für einige Augenblicke dem Dolcefarniente hin. Es wurde Zeit, dass wir wieder einmal mit Muße dem Geschmack des Weines nachspürten. Fast gleichzeitig schlossen wir die Sequenz ab und stellten unsere Gläser zurück. Lutz griff nach seiner Pfeife, ich wollte meinen Faden aufgreifen. Doch mein Freund kam mir zuvor und stellte eine Frage.

»Du sprichst von Zorn und Wut doch, was ist mit Töten, was ist mit den Zehn Geboten?« 

»Was soll damit sein?«, kurz dachte ich über die mich überraschende Frage nach. 

»Spontan würde ich an die oberste Stelle das Töten setzen. Oder vielleicht doch eher die Lüge. Vertrauensbruch, und dies ist Teil der Lüge, ist der heftigste Auslöser für ein sehr lang anhaltendes Karma. Vertrauen ist sehr wichtig in jeder Beziehungsebene. Ohne Vertrauen ist ein Zusammenleben für mich nicht vorstellbar. Wird das Vertrauen durch die Lüge verletzt, ist es nur äußerst schwer, die Verletzung wieder zu heilen.«

»Ach ja,« eine Augenbraue von Lutz wanderte ein Stück nach oben, »und wer bestimmt, wie intensiv eine Lüge, ein Vertrauensbruch sein muss, um das Gesetz auszulösen? Wie es aussieht, kommen wir nun zu meinem Dilemma. Wer bestimmt die Kraft des Karmas? Wer bestimmt, die Qualität und die Tiefe der Wirkung?«

Eigentlich wunderten diese Fragen mich nicht und doch, stieg leichter Unwillen in mir auf.

>Vorsicht Karma!<, schoss mir durch den Kopf.

Unwillkürlich musste ich lächeln. Rasch verschwand das Gefühl wieder. Er hatte recht, darauf bewegte sich doch die gesamte Diskussion hin.

Wer bestimmte die Regeln?

»Ich behaupte jetzt einfach, nur mal so, diese Gesetze existieren. Da wir sie allerdings kaum in unser Leben lassen, sie annehmen. Kann niemand von uns genau wissen, wann diese Gesetze überschritten werden. Niemand von uns kann wissen, wie sie ihre Wirkung entfalten. Bestimmt niemand von uns, nur der Gesetzgeber«, mein stilles Lachen erfüllte den Raum.

Lutz stimmte hörbar ein und es klang, zumindest unterschwellig, nach Sarkasmus. Ich ließ mich davon jedoch nicht irritieren. Mir war bewusst das ein Gesetzgeber, Gott implizierte. Dies war möglich und wahrscheinlich richtig. Unbeirrt setzte ich meine Gedankenkette fort.

»Die kosmischen Gesetze sind Teil unserer Wirklichkeit, daran kann es keinen Zweifel geben. Das Gesetz der Harmonie, der Balance zwischen Ursache und Wirkung ist sichtbar, in allem, was uns umgibt. Einfach in allem.«

»Ach ja, und was macht dich da so sicher?«

Etwas arbeitete in Lutz. Deutlich spürte ich es. Ich gab Lutz Gelegenheit seinen Gedanken Raum zu geben und nachzudenken. Eine Blockade erwartete ich nicht.

Die Stille tat gut.

»Alles Leben, jedes Bewusstsein strebt nach Wachstum, nach Vollendung. Egal wohin du dich wendest, alles greift, ich sage es noch mal, harmonisch ineinander. Zufall? Das Leben muss nicht wissen oder anders gesagt, niemand muss dem Leben sagen, wie es dabei vorgehen soll. Es fühlt es einfach. Wenn du in dich hinein hörst, du fühlst es. Keine Gewalt ist notwendig, nur ein Zulassen der Kräfte und oder Geduld.«

»Warum ist dann ein Gesetz notwendig? Ein Gesetz, das nach deiner Aussage eingreift, wenn etwas, sagen wir mal, schiefläuft.«

Zum ersten Mal an diesem Abend spürte ich, wie sich mein drittes Chakra, im Tantra Manipura genannt, meldete. Ein Grummeln breitete sich um meinen Solarplexus herum aus. Heftiger als gut für unsere Diskussion war, wollte ich auf seine Frage reagieren. Doch dies wäre nicht hilfreich gewesen.

Um mich zu beruhigen, griff ich nach meinem Weinglas, welches, zu meiner Überraschung, leer war. Ich sah mich auf dem Tisch um und entdeckte im Kerzenschein die gesuchte Flasche Wein. Sie stand auf dem Boden. Keine Ahnung, wie sie dahin kam. Ich beugte mich nach unten, hob sie auf und ließ den blutroten Saft der Traube in das Glas plätschern. Als ich die Flasche zurückstellen wollte, griff Lutz danach, nahm sie und goss auch sein Glas bis zur Hälfte auf. Schon entspannter schaute ich ihm zu wie er, das Einschenken zelebrierte. Wir ergriffen unsere Weingläser, ließen sie aneinanderstoßen und tranken genussvoll einen Schluck. Bevor ich mein Glas zurückstellte, nahm ich noch einmal die blutrote Farbe, die im Kerzenschein, eine zauberhafte Note bekam, in mir auf. 

Ich fühlte mich gut. 

»So lob ich mir das. Immer schön am Karma arbeiten. Chaos.«

Ein Lächeln und diese Worte konnte ich nicht unterdrücken.

»Was hat das mit Karma zu tun? Es war meine Entscheidung uns diesen Wein auszusuchen. Ohne einen Gedanken ans Karma zu verschwenden.«

»Genau dies sehe ich als den Grund für das Karma an. Die Wahl und unseren freien Willen! Wir entscheiden frei, wie Gesetzlose, über unser Handeln. Deshalb sind Pflanzen und in gewisser Weise auch Tiere, nicht vom Gesetz von Ursache und Wirkung so stark betroffen. Denn sie haben nur eine beschränkte Wahl.«

»Also durch falsche Entscheidungen, durch einen schwach ausgeprägten Willen, durch Unwissen, verstricken wir uns im Karma?«

»So würde ich es ausdrücken. Und vergessen wir nicht das Gesetz des Chaos.«

»Gesetze und Chaos. Passt dies überhaupt zusammen?«

»Warum nicht? Ich sprach ja schon über das Gesetz der Dualität. Harmonie strebt Heilung an, Chaos sorgt für Erneuerung. Beides gehört zusammen. Beide bedingen sich, wenn du Wachstum anstrebst.«

Lutz nickte.

»Noch bin ich nicht ganz überzeugt. Ich meine noch immer, Karma ist eher eine Glaubensfrage. 

Wenn wir uns innerhalb von diesem Glauben aufhalten, sind wir darin verstrickt. Wenn wir nicht glauben, wirkt auch kein Karma, wir sind frei. Wobei, dies will ich dir zugestehen, der Glaube uns gleichzeitig sagt, dass wir uns befreien können. Allerdings, und dies stört mich besonders an der Angelegenheit, nur bei Wohlverhalten.«

»Glauben oder nicht glauben. Wenn es doch nur so einfach wäre. Ich sagte schon, das Gesetz von Ursache und Wirkung ist keine Glaubensfrage. Ist dir nichts aufgefallen, als du deinen Wein getrunken hast?«

Lutz ließ sich nicht unterbrechen und fuhr fort, als hätte ich nichts gesagt.

»Das Wort frei, befreien, erinnert mich wieder einmal daran, dass wir Gefangene sind. Möglicherweise sollten wir dringend einmal darüber nachdenken, warum wir uns gefangen fühlen. Vielleicht ist ja dieses Gefühl, in einem Kreislauf gefangen zu sein, der Grund weshalb ich Widerstand leiste und verspüre.«

»Vielleicht fühlst du dich und noch andere auch deshalb gefangen, weil Religionen mit Ritualen verbunden sind. Rituale, die uns nicht nur begrenzen, die uns auch in einen Rahmen zwängen. Wenn es nach den Religionen, genauer nach ihren Führern geht, sollen und müssen wir uns an diese halten, wollen wir Erlösung finden. Nicht das selbstbestimmte Handeln ist wichtig, sondern das Ritual. Ritualhandlungen werden so um Korsett unseres Lebens, im Besonderen für Menschen, die noch unsicher sind und ihr Karma als etwas Diffuses spüren.«

»Ein interessanter Gedanke, ich glaube, damit könnte es zu tun haben. Die Religion fordert ein, wodurch wir unfrei werden und wir glauben Gott hat damit zu tun. Etwas zu fordern ist im Grunde nichts Schlechtes, doch sollten es die Religionsführer sein? Sollten nicht wir selbst uns fordern? Wäre dies nicht die richtige Herangehensweise an das Leben? Einmal sollen wir einem alten Glauben gerecht werden und dann wieder unserem Willen. Das eine engt uns ein, das andere verwirrt uns. In diesem Dilemma fühlen wir uns gefangen. Auf der einen Seite Herr sein, auf der anderen Seite Knecht.« 

Lutz verstummte für einen Moment.

»Das ist wahrscheinlich die Dualität, von der du sprachst. Religionen sind nach meinem Dafürhalten sowieso äußerst repressiv und geben uns schnell das Gefühl von Versagen. Was uns wiederum depressiv werden lässt. Ein weiterer Grund, warum wir uns gefangen fühlen. Schlussendlich erfahren wir dann noch, dass es kosmische Gesetze gibt, dass wir diesen unterworfen sind. Gesetze als Grenzen zu betrachten, kommt mir nicht abwegig vor. Gesetze sind das Terrain, welches uns einschränkt und begrenzt? 

Oder, du siehst es bestimmt positiv, sie sind da, um uns zu helfen, dass wir nicht allzu weit vom rechten Pfad abweichen. Sie sorgen für das Gleichgewicht.«

»Schön, dass du selbst erkennst, nicht die Gesetze sind gegen etwas oder dich gerichtet. Gesetze begrenzen, ziehen Zäune, doch bestimmt keine Mauern. 

Doch Gesetze sind notwendig, denn zu viel unterschiedliche Kräfte wirken im Universum. Vielleicht ein Hinweis, dass nicht nur eine Kraft Gesetze erlässt. Wie auch immer durch die Wechselwirkung von Chaos und Ordnung wird Entwicklung möglich. Sie sind für Wachstum im Gleichgewicht verantwortlich. Wenn du so willst, sie schaffen Gerechtigkeit. 

Ich selbst bin davon überzeugt, dass alles in unserem Kosmos, Gesetzen untergeordnet ist, damit wir einen Rahmen haben, in dem wir uns entwickeln können frei und unabhängig. Bis wir eine nächste Stufe erlangen, auf der wir die Zusammenhänge verstehen und ohne ein Warum handhaben.«

Lutz wollte offensichtlich etwas einwenden. Doch ich wollte keinen Einspruch zulassen und trug meine Gedanken eine Nuance lauter vor.

»Du sprichst von Begrenzung, doch ich bin überzeugt, bisher hast du noch keine Grenze erfahren. Ohne Gesetze würde sich alles im Dunkel verlieren, deshalb sind sie gut und wichtig, für alles Leben. Außerdem wer sagt, dass die Gesetze ewig gelten?«

Ich lehnte mich zurück.

»Interessante Idee. Gesetze verlieren irgendwann ihre Wirkung, ihre Kraft. Das erinnert mich daran, dass es noch weitere Gesetze geben müsste. Ein Gesetz gegen Wollust, gegen Leiden und Schmerz, gegen die Gier, und wenn wir schon dabei sind, auch noch gegen den Tod. Selbstverständlich können Gesetze auch für etwas sein. Für die Liebe sowieso, die Demut, für Schönheit. Wie ist es eigentlich mit Gott, können wir uns darauf einigen, dass er der Gesetzgeber ist? Und wenn ja, steht er über dem Gesetz oder wirkt er als Wächter über die kosmischen Gesetze? Also ich habe Zweifel, ob es überhaupt wirksame Gesetze gibt, wenn ich mir die Welt betrachte, scheint sie mir verloren. Alles versinkt immer mehr im Chaos. Von Ordnung, geschweige Harmonie ist wenig, wenn überhaupt etwas wahrzunehmen.«

Lutz hatte sich in einen nicht zu übersehenden Rausch geredet. Da gab es für mich einiges zu verdauen. 

»Wie würdest du Gesetze für Tod, Liebe und so weiter abfassen oder designen? Warum gibt es ein Gesetz der Dualität? Gäbe es ohne dieses Gesetz überhaupt Hass, Neid und so weiter?«

Um überschüssige Energien loszuwerden, rutschte ich auf meinem Sessel Hin und Her, bevor ich mich wieder ins Halbdunkel zurückfallen ließ.

»Wie willst du Tod und Sterben einem Gesetz unterwerfen«, Lutz war nicht mehr zu stoppen, »ich bin überzeugt, es gibt im Universum vieles, das geschieht einfach nur. Ohne ein Gesetz. Leben an sich ist unabhängig. Leben ist. Tod ist. Beides ist wichtig, um sich zu erneuern, wiedergeboren zu werden. Du erwähntest Gott, wurde Zeit, dass das Wort in unser Gespräch einfließt. Nun er könnte vielleicht Ursache aller Gesetze sein. Möglich das eine göttliche Kraft am Anfang stand und wirkte. Doch das bezweifle ich. Schöpferkraft, so verstehen wir doch Gott, arbeitet aus dem Nichts. 

Ich glaube nein. 

Im Nichts kann es keine Gesetze geben. Am Anfang herrschte der Zufall und alles, was geboren wurde, hat sich in einem gesetzlosen Raum entfaltet. Erst ohne Sinn, dann allmählich kam so etwas wie Sinn ins Spiel der Kräfte. Es entwickelten sich Verhaltensregeln. Regeln, um zu handeln. Der Zufall wirkte weiter und der jeweilige Bewusstseinszustand bestimmte das Universum. Mit dem erwachenden Bewusstsein entwickelte sich schließlich die Wahl. Eine Wahl, die das Leben erkennen ließ. Doch es gab nicht einfach ein Auswählen von unendlichen Möglichkeiten. Die Wahl bekam einen Rahmen, es entstanden kosmische Gesetze.«

Ich musste Lutz unterbrechen.

»Darf ich kurz, nur zum besseren Verständnis, aus dem Gesagten Folgendes extrahieren? Gott gibt es, aber erst nach der Schöpfung. Gott wurde nicht aus dem Nichts geboren, sondern erwachte im Hier und in der Fülle. Verstehe ich das richtig.«

»Vielleicht?«, Lutz klang süffisant in meinen Ohren, »Viel wurde darüber philosophiert. Doch im Moment klingt das für mich logisch. Obwohl ich zugebe, es gibt keine schlüssige Antwort. Gab es Gott eventuell schon vor der Fülle, sozusagen vor dem Urknall. Oder wurde er in ihm geschaffen. Eine immer wieder spannende, wenn auch unauflösbare Idee. So wie mit dem Huhn und dem Ei. Also lassen wir die Idee von Gott erst einmal außen vor. Kommen wir lieber nochmals zum Karma zurück. Habe ich richtig verstanden, Reue, Sühne und tätiges Verzeihen, haben einen entscheidenden Einfluss auf das Karma? Karma löst sich auf durch unser Handeln oder vielleicht durch Nichthandeln.« 

»So ist es. Einmal geschaffenes Karma wird durch die Tat oder Nicht-Tat aufgelöst«, versuchte ich meinen Faden wieder aufzugreifen. Lutz schaute nachdenklich zu mir herüber, bevor er erwiderte.

»Karma bleibt in erster Linie eine Glaubensfrage. Wenn wir daran glauben, ist Karma ein Konstrukt, erschaffen durch destruktives Handeln. Wer bestimmt jedoch, was destruktiv ist? Ein Gesetz sollte eigentlich genau sein und kann deshalb in diesem Fall nicht wirklich greifen«, Lutz sog an seiner Pfeife, die wie durch ein Wunder noch immer glühte, »doch Karma kann aufgelöst werden, wenn wir bereuen und sühnen. Doch sofort stellt sich die Frage, was ist Sühne und Reue? 

Für mich ist Karma immer noch etwas, dass wir uns selbst ausgedacht haben und die Regeln gleichzeitig dafür definierten. Ich gebe zu, es ergibt einen gewissen Sinn, sich auf Karma einzulassen. So fällt es eventuell leichter, das Leben mit all seinen Stärken und Schwächen anzunehmen und in Frieden mit seinem Nächsten zu leben. Doch gleichzeitig engt diese Vorstellung unser Leben auch ein. Denn wir leben, wenn der Glaube groß genug ist, in ständiger Angst, Karma auszulösen und unser Leben dadurch zu belasten. Und wer an die Wiedergeburt glaubt, wie es die östlichen Religionen tun, auch noch in den noch folgenden.«

Etwas in mir sagte, das Gespräch begann sehr abstrakt zu werden. Ich überlegte, dass es eigentlich nichts mehr zu sagen gab. So empfand ich es im Moment. 

Deshalb nahm ich mir vor, persönlicher zu werden.

»Kommt Karma eigentlich in deinem Leben vor? Hast du noch nichts bemerkt von Ursache und Wirkung? Dies würde mich einmal interessieren.«

Doch Lutz ist Lutz. Die Wege, die er in einem Gespräch einschlägt, sind scheinbar ohne Umwege nicht möglich.

»Bevor ich diese Fragen beantworte, lass mich noch ein paar Gedanken formulieren. Du weißt, wie wir denken, welche Bedeutung wir unseren Gedanken geben, so wird unser Handeln sein. Gedanken, Vorstellungen bestimmten unser Leben. Ich behaupte einfach mal, es wird, was ich denke. Doch es gibt einen gewissen Schwellenwert, bevor Denken Realität wird. Karma lebt vom Zufall. Manchmal denke ich etwas und es bleibt ohne Bedeutung und manchmal versuche ich nicht zu denken und es wird bedeutsam. An dieser Stelle möchte ich noch mal die Begriffe Schicksal, Gott, Zufall aufgreifen. Was haben diese mit Karma zu tun? 

Ist es das Schicksal, welches bestimmt, in welchen Lebensraum ich hineingeboren werde? Ist es Gott, welcher über die Wirkung meiner Gefühle bestimmt? Ist es der Zufall der bestimmt mit welchen Ritualen ich konfrontiert werde, Rituale die mir Halt im Leben geben sollen? Wer von diesen drei wirkt auf Schönheit, Verstand und Sein?«

Ich konnte ein kleines Lachen nicht unterdrücken.

»Schlussendlich bestimmen all unsere Taten, all unser Handel unser Karma. Du kannst Schönheit nicht schaffen. Eines kannst du tun, du kannst dein Bewusstsein erweitern. Gott, Schicksal und der Zufall können dich unterstützen, doch letztendlich bist allein du verantwortlich, für deine Entwicklung, das Anhaften und die Loslösung.«, eine sichtbare Falte bildete sich auf der Stirn meines Freundes. 

»Eines bleibt, egal wie auch immer wir Karma betrachten, sozialisiert werden wir, davon bin ich überzeugt, durch das Umfeld und mit den Möglichkeiten, die uns begegnen. Wer hören will, kann hören. Wer sehen will, kann sehen.«

»Doch wer bestimmt dies,« ich unterbrach heftiger, als ich wollte. 

»Der Zufall? Ich weiß es nicht. Doch wie auch immer, unser Wirken und Handeln, unsere Taten hängen davon ab, an welchem Ort wir uns befinden und wie wir unsere Möglichkeiten nutzen.

Schönheit -- ist. Verstand -- ist. Gefühl -- ist. Alle Sinne -- sind. Alles ist meiner Meinung nach abhängig von Evolution, unseren Genen und unserem Umfeld. Die meisten Menschen, in unserem Kulturkreis, versuchen sich auf das einzurichten, was sie als "GUT" in ihrem jeweiligen Umfeld betrachten. Ob sie damit Karma verhindern, interessiert sie nicht. Warum auch. Sterben, vergehen, im Wind verweht, dies ist das Leben.«

»Wie sagtest du? Unser Denken bestimmt unsere Wirklichkeit. Mein Denken unterscheidet sich in diesem Fall von deinem und damit erschaffe ich eine andere Wirklichkeit. In meiner Realität gibt es das Karma, wir werden wiedergeboren, und unsere Taten von heute erzeugen das Karma von morgen. Karma -- ist. Karma ist Sein.«

Lutz griff nach seinem Weinglas. Etwas hatten meine Worte in ihm ausgelöst, plötzlich wirkte mein Freund entspannt. Zufrieden trank er einen Schluck Wein. 

»Irgendwie hast du ja recht. Ein nicht zu übersehender Aspekt ist erkennbar. Zu erkennen ist, es gibt kein Weiß ohne Schwarz. Kein Gut ohne Böse, jetzt wird’s doch erneut interessant, kein Leben ohne Sterben. Inwieweit haben wir ein Wissen von den Gegensätzen? 

Der Dualität. Wenn wir kein Wissen darüber hätten, wie könnten wir in diese Gegensätze verstrickt werden --- also nennen wir die Verstrickung Karma.«

Leitete Lutz das Ende des Themas ein? 

»Eines ist auch mir deutlich, Nichtwissen verhindert nicht, dass wir Verantwortung für unsere Taten tragen. Vielleicht ist Karma mehr als wir jetzt gerade annehmen,« Lutz schaut lächelnd zu mir herüber, »als ich gerade annehme, du nimmst oder siehst ja eine andere Wahrheit. Doch über alle Grenzen hinweg, es ist eines keine Frage, wir sollten und müssen wissen, was wir tun?

Zuerst kommt das Wollen, dann das Wagen und schließlich das Wissen. In dieser Reihenfolge sollten wir vorgehen, dies erscheint mir sinnvoll. Sich hinzusetzten und das Leben an sich vorüberziehen lassen hilft sicher nicht. 

Natürlich glaube auch ich nicht, dass wir einfach so auf der Welt sind, um ohne Sinn zu leben. Wir beide, ich sage wir, glauben an die Möglichkeit der Reflexion. Du glaubst vielleicht ein bisschen mehr an einen Sinn, an einen Weg, doch auch ich spüre den Weg. Von einem bin ich allerdings fest überzeugt, niemand kann sich ums Lernen drücken.«

Na, wenn das keine perfekten Schlussworte waren. Sie woben sich mit luftiger Leichtigkeit in die mich umgebende ruhige, entspannte Atmosphäre ein. Ich, Besucher aus einer anderen Welt, hörte sie und sie berührten mich.

War mein Karma, meine eigene Verstrickung, Ursache meines jetzigen Hierseins?

Die Begegnung mit Lutz tat mir gut, auch wenn ich jetzt mehr Fragen hatte, wie vor dieser Begegnung. Doch ich wusste ja, mit Fragen beginnt alles. Besonders die Frage, in wie vielen Leben habe ich durch mein Wirken, mein Handeln überflüssiges Karma auf mich geladen hatte und die Frage, auf welche Weise ich es nun abarbeiten musste. Eines wusste ich schon jetzt, diese zwei Fragen würden mir vom heutigen Abend lange im Bewusstsein bleiben. Kurz schloss ich meine, Werners, Augen. 

Fühlte in mich hinein.

Während die unterschiedlichsten Fragen in meinem Kosmos ihre Kreise zogen, drängte sich mir ein ungewöhnliches Bild auf. Es dauerte eine Weile, bis ich bemerkte, dass ich das Bild nicht sah, sondern ein Teil von mir war. Ich fühlte mich in eine unendlich scheinende dunkle, schwarze Fläche eingebettet. Ungezählte, strahlend helle Sterne umgaben mich. Ich fühlte mich in die Mitte des Universums versetzt. 

Ich war das Zentrum. 

Dann verschwand dieser Eindruck wieder und Dunkelheit blieb zurück. Ich verlor jedes Zeitgefühl und es kam mir so vor, als befände ich mich außerhalb von Zeit und Raum. Ein nicht greifbares Gefühl gaukelte mir vor, dass die Zeit spurlos aus dem Raum, in dem ich mich aufhielt, verschwunden war. 

 

 

                                                                                                                          


 

 

                                                                                                                             Wuqũf-i adadi

                                                                                                                              Die Welt ist Zahl.

                                                                                                                              Zahl ist Einsicht  in die Welt.

                                                                             

11

 

Glauben ist nicht wissen

 

N

och nicht wirklich angekommen, noch nicht völlig Teil der Welt, 

in die ich mich gleich assimilieren werde, fühlte ich mich schon zu Hause und angekommen. 

Es war nicht nötig mich zu orientieren. Ohne mir die Welt, die mich umgab, genauer anzusehen, 

wusste ich, wo ich mich befand. Dieses Schwingungsfeld kannte ich zu gut, um mich zu irren. 

Ein behagliches Gefühl umschloss mich und ich wurde ohne Mühe Teil der Person, 

die seinem Gegenüber zuhörte und Wein genoss. 

Ich, mein vergangenes Ich, saß meinem besten Freund Lutz gegenüber. 

Das Wort Zukunft erreichte meine Gehörnerven.

Schon wieder Zukunft? 

Leicht irritiert, verwirrt und sofort gespannt auf das Kommende, 

ließ ich mich auf den mich umgebenden Raum ein. 

Ich wurde Eins mit meiner Vergangenheit, um etwas über die Zukunft zu erfahren, 

öffnete die Augen und nahm mein Gegenüber in meiner Gedankenwelt auf. 

Lutz grinste sein einnehmendes Lächeln. Ich vermutete, er erwartete, dass ich seine Fragen beantwortete.

Nur welche?

Um Zeit zu gewinnen und mich auf ihn einzustellen versuchte ich es mit einer Floskel. 

»Welche ungewöhnliche Fragen du doch immer wieder stellst.«

»Findest du?«, sein Lächeln wurde breiter, »warten wir doch mal ab, 

zu welchen Ergebnissen wir bei deren Beantwortung kommen.«

Ich suchte in meinem Gedächtnis nach den letzten Minuten, wurde fündig und hob die Schultern.

»Na ja, eine Antwort könnte ich dir spontan geben. 

Ein Mann verliert in der Zukunft seine Vergangenheit, dies im Gegensatz zu einer Frau. 

Sie wird in der Zukunft von der Vergangenheit eingeholt. 

Allerdings haben beide die gleiche Chance in ihrer persönlichen Zukunft, 

die Fehler der Vergangenheit zu verändern.«

Lutz war offensichtlich wieder einmal in seinem Element. 

Ich schaute mich, wollte mich ein weiteres Stück integrieren, im Zimmer um 

und stellte erstaunt fest, dass sich in der Welt von Lutz scheinbar nichts verändert hat. 

Lutz selbst blieb allerdings weiterhin kryptisch.

Das Zimmer war unverändert. Endlich rissen die Dämme und Wissen meines vergangenen 

Ich´s sickerte zu mir herüber. Ich wusste, worauf mein Freund hinaus wollte. 

Es ging um unser Leben, welches sich in und durch die Zeit bewegte und um das Leben allgemein. 

Fragen nach dem Sinn, dem Warum. Fragen, die mich auf meiner jetzigen Reise hautnah begleiteten. 

Seltsames Gefühl, wenn ich aus meiner Perspektive die Zeit betrachtete.

Gab es Zeit überhaupt?

Ich war überall und doch auch nirgends.

Den Raum glaubte ich zu verstehen, doch wie sollte ich Zeit bewerten? Sie blieb mir ein Rätsel. 

Wenn ich die Gedanken von Lutz richtig einordnete, gingen Mann und Frau zuerst einmal,

verschieden mit Zeit, mit der Zukunft und der Vergangenheit um. 

Vielleicht liegt es daran, überlegte ich, dass Mann und Frau Zeit unterschiedlich erleben?

Unterschiedlich interpretieren.

»Wenn ich dich richtig verstehe, sprichst du davon, dass die Geschlechter sich unterscheiden

im Umgang mit ihrer Zukunft, mit ihrer Vergangenheit. Mit dem Erleben und dem Leben. 

Doch mich würde in diesem Zusammenhang zuerst einmal interessieren, wie Zukunft eigentlich entsteht. 

Es ist mir klar, die Zukunft ist ein Teil der Zeit. Die Frage, die sich mir stellt, ist, ist Zukunft vorhanden, 

bevor wir es wissen? Und wenn ja, wieso? Und was ist eigentlich Zeit tatsächlich? 

Außer vielleicht die Ausdehnung des Raumes.«

Ich sah, wie Lutz zusammenzuckte. 

Hatte ich etwas erwähnt, wodurch seine Vorstellungswelt eine neue Richtung einnahm? 

Ich fühlte, dass mein Gegenüber dabei war, sich mit meinen Gedanken auseinanderzusetzen. 

Da mein Freund schwieg, entschloss ich mich meine Ideen noch etwas weiter auszuführen.

»Wenn ich mich selbst richtig verstehe«, 

ich konnte mir bei dieser Formulierung ein Grinsen nicht verkneifen, 

»dann interessiert mich eines besonders. Ist es ein Schöpfungsakt des Menschen, 

dass Zukunft überhaupt entsteht. Oder leben wir eine schon geschaffene Zukunft? 

Wenn das aber so sein sollte, sind wir dann in der Lage unsere Zukunft selbst zu gestalten? 

Würde eine schon vorhandene Zukunft nicht bedeuten, alles ist vorherbestimmt? Leben wir einen Traum? 

Kann es sein, dass alles von dem wir annehmen wir würden es selbst bestimmen, nur Illusion ist? 

Es gibt weder Zeit noch Raum. Wie denkst du über die Vorstellung, dass es überhaupt keine wahre Zukunft gibt. Zumindest keine von uns mitgestaltete Zukunft.«

»Mit deinen zuerst formulierten Fragen kann ich mich anfreunden. 

Doch deine Annahme, dass es keine von uns bestimmte Zukunft gibt, finde ich«, 

mein Freund beugte sich mir ein wenig entgegen, 

streckte seinen Arm in einer versöhnlichen Geste zu mir aus, »gelinde gesagt, Blöds… 

Entschuldigung, aber wie kommst du auf so eine abwegige Idee?«

»Nun es gibt Menschen die die deiner Meinung nach abwegige Idee vertreten. 

Manche behaupten, alles sei determiniert. Doch wenn es so ist, wie kann es dann eine Zukunft geben? 

Wenn wir gelebt werden, wie einige formulieren, 

wie können wir dann eine Vergangenheit oder eine Zukunft haben? 

Denn es ist doch der Mensch, seine Fähigkeit zu gestalten, 

der durch sein Bewusstsein erst Raum und Zeit ermöglicht. 

Doch wenn er nicht bestimmen kann, dann gibt es kein wirkliches Leben. 

Ohne unser Handeln kann es keine Gestaltung der Zeit geben.«

Lutz ließ sich demonstrativ in seinen Opasessel zurückfallen. Er schien erleichtert.

»Ah, jetzt verstehe ich worauf du hinaus willst. Ohne uns wäre alles«, er ließ eine Pause entstehen, 

»nichts. Nichts! Du meinst, wenn alles vorbestimmt ist, dann ist dass was wir Leben nennen eine Illusion. 

Zeit, wie wir sie erfahren ist Illusion. 

Doch müsste es nicht auch bei dieser Erklärung der Welt einen Anfang geben?« 

Lutz unterbrach sich kurz um seine Gedanken zu sortieren. Einer Eingebung folgend, redete er weiter.

»Wir haben keine Vergangenheit, keine Gegenwart, keine Zukunft. Alles Lug und Trug. 

Du glaubst oder besser du vertrittst die Ansicht, von Menschen, die der Meinung sind, 

das Leben wurde schon gelebt und wir leben es erneut um diesmal unsere Möglichkeiten kennenzulernen?«

Lutz atmete tief durch bevor er weitersprach.

»Ich bin wie du der Meinung so funktioniert das Leben nicht. 

Auch wenn diese Sicht auf unser Dasein für dich undenkbar ist, warum sollte sie nicht möglich sein. 

Es könnte sich lohnen, wenigstens kurz darüber nachzudenken und sich zu fragen; 

was bedeutet dies für unser Handeln? Sind all unsere Mühen sinnlos?«

Lutz fixierte einen imaginären Punkt hinter mir. 

Nachdenklichkeit zeichnete sich deutlich sichtbar auf seinem Gesicht ab. 

Tief versunken gab er sich meinem Gedankengeflecht hin. Ich ließ ihm Zeit. 

Ist Geduld nicht die Schwester von Eile und Hast? 

Ich musste nicht allzu lange warten und er schien bereit mir die Ergebnisse seines Denkprozesses anzuvertrauen.

»Es ist irgendwie genau wie mit diesen Babuschka Puppen. Du öffnest eine und eine andere erwartet dich. 

Du öffnest auch sie und erneut erwartet dich eine Weitere.«

Lutz trank einen Schluck Wein, schaute sich kurz um, 

sein Blick verweilte an der unruhigen Flamme einer der Kerzen, dann sprach er weiter. 

»Eines erschließt sich mir allerdings nicht so wirklich. Wenn alles schon geschehen ist 

und wir unser Leben nur leben, um es vielleicht besser zu verstehen, würde dies bedeuten, 

dass wir keine Fehler begehen können, da wir nur zuschauen. Ich frage mich allerdings, wo war der Anfang. 

Es muss ja einen Anfang gegeben haben, wie bei den Puppen. 

Deshalb ist mir diese Idee, von einem Leben, in dem wir nicht handeln können, mehr als suspekt. 

Für mich gilt, Leben bedeutet leben, in all seinen Facetten. 

Es bedeutet Verantwortung übernehmen, Entscheidungen treffen, wir müssen wählen, 

können Irrtümer erkennen und sie korrigieren. Wir können Altes eliminieren und Neues zulassen. 

Was hältst du eigentlich von dem Gedanken, dass die Zukunft und die Vergangenheit einen Kreis bilden 

und deshalb manche denken es gäbe keine Zukunft. 

So wie es ja in einem Kreis kein Anfang und kein Ende gibt. Das Rad des Lebens ist somit nichts anderes, 

als ein Kreislauf, eine Zeitschleife«, deutlich spürte ich Erregung bei meinem Gegenüber, 

mit Eifer spann er seinen, in den Weiten seines Seins aufgefundenen, Faden weiter, 

»und aus dieser Schleife können wir uns nur befreien, wenn wir eine neue, veränderte Zukunft erschaffen. 

Und ich kann mir gut vorstellen, dass dies möglich sein müsste. 

So wie ich es sehe, gestalten wir beide jetzt unsere Zukunft. 

Alles was wir im Moment tun, wie wir mit unseren Fragen umgehen, 

verändert unsere Einstellung, unser zukünftiges Handeln und dadurch verändert sich unsere Zukunft. 

In jedem Augenblick verändern wir, erschaffen wir.«

Lutz griff nach seinem Weinglas, hob es auf Augenhöhe und betrachtete die Farbe des Weines 

im Licht der flammenden Kerzen. 

Wir beide benutzten den Moment, um die unterschiedlichen Vorstellungen zu erfassen. 

Lutz stellte sein Weinglas auf den Tisch und lehnte sich zurück. 

Nachdem der Raum sich mit einer gewissen Spannung erfüllte, wendete er sich mir zu.

»Der Gedanke, dass alles schon geplant ist, entsteht vielleicht nur dadurch, dass wir ab 

und zu an eine Stelle kommen, die wir zu kennen glauben. 

Wenn das geschieht und Einzelne von uns dies auch noch bemerken, entsteht vielleicht eine vage Vorstellung, 

dass die Zukunft schon ist, bevor wir sie tatsächlich erleben. 

Es soll einige Hirnforscher geben, die glauben zu wissen, unser Handeln wird nicht durch uns, 

unseren Willen bestimmt. Keine Ahnung wieso. Wenn dem so wäre, würde dies ja den Gedanken, 

wir haben keinen freien Willen, implizieren. Wer ist es aber dann, der sagt, ich habe keinen freien Willen.«

Was hatte Lutz gesagt?

Erschrocken bemerkte ich, dass ich mich für Augenblicke nicht ganz in der Gegenwart befand.

Würde dies nun meine Zukunft verändern?

Kein so abwegiger Gedanke. 

Alles ist möglich, wenn wir es denken. Nicht ohne eine gewisse Strenge rief ich mich zur Ordnung. 

Mit neu geerdeter Konzentration widmete ich, nach dieser kurzen Abschweifung in die Vergangenheit, 

meine Aufmerksamkeit wieder voll meinem Gesprächspartner.

»Und was ist mit der Gegenwart? 

Nehmen wir kurz an, es gibt keine Zukunft und keine Vergangenheit, 

eine Gegenwart die müsste es aber doch geben. Oder?«

Ich hoffte, dass die Erinnerung an die Gegenwart unser Gespräch, auf das Ursprüngliche zurückführen würde. 

Was auch immer der Ursprung aller Diskussionen sein sollte. 

Mein Freund schaute mich erstaunt an, meine kurze Abwesenheit hatte er offensichtlich nicht bemerkt.

Nachdenklich schloss er seine Augen und gab sich ganz der Dimension der Frage hin. 

Während ich ihn beobachtete, spürte ich fast körperlich, wie er tiefer und tiefer,

in seine reichhaltige Gedankenwelt hinabstieg, um Erinnerungen zu finden, die zu diesen Gedanken passten.

 Endlich schien er aufzugeben oder fündig zu werden. 

»Manchmal stellst du wirklich interessante Fragen. 

Und zwar nicht nur deshalb, weil die Antworten darauf nicht einfach sind.«

Ich lachte herzhaft auf.

»Wer sagt denn, dass das Leben und die dadurch entstehenden Fragen einfach sind?«

Lutz antwortete mit einem leichten Grinsen.

»Ich glaube niemand. Wie auch immer es sein mag. Gegenwart. 

Das mit dem Rad des Lebens, dem Kreis sollte ich anhand dieser dritten Komponente noch einmal überdenken. 

Wenn Zukunft und Vergangenheit einen Kreis bilden, und wir daraus schließen es gibt keinen Anfang 

und kein Ende, wäre dann die Gegenwart nicht ein Punkt der Anfang und Ende schafft, erschafft? 

Der Kreis erhält einen Fixpunkt und dieser Punkt stellt einen Anfang dar. 

Somit wäre das scheinbare Paradoxon gelöst. Zeit besteht aus Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft. 

Dabei spielt die Gegenwart eine wichtige Rolle. Sie ist immer der Anfang. 

Wenn es aber einen Anfang gibt, ist der Kreislauf des Lebens eine Vorstellung, die so nicht haltbar ist.«

»Also gibt es den ewigen Kreis des Lebens, nur für Menschen, die schlafen und ihr Leben nicht leben.«

Obwohl mein Freund im Moment dabei war, mich in immer unbekanntere Gefilde zu entführen 

und ich im Grunde bereit bin dies zuzulassen, konnte ich den Impuls nicht unterdrücken, ihn zu unterbrechen. 

Mit einem etwas übertriebenen Durchatmen setzte ich mich aufrecht hin und beugte mich nach vorne. 

Lutz reagierte wie gewünscht und verstummte. I

ch wartete kurz und fasste die bisher geäußerten Gedanken zusammen.

»Lass mich kurz ein Resümee unserer bisherigen Gedanken zusammenfassen. 

Einige Fragen, die wir aufgeworfen haben, lauten. 

Gibt es eigentlich im Universum einen Anfang und ein Ende? 

Woher kommt die Vorstellung, dass Frauen und Männer unterschiedlich mit der Vergangenheit 

und der Zukunft umgehen? Ist eventuell die Qualität der Zeit verantwortlich dafür? Existiert die Zeit überhaupt?«,

ich atmete tief ein, »und eine weitere noch nicht berührte Frage. 

Welche Rollen spielen eigentlich Gott, der Wille, das Schicksal und unsere Wahrnehmung der Wirklichkeit, 

bei all unseren Überlegungen?«

Lutz griff, (leicht aufgewühlt?) mit einer raschen Bewegung nach seiner wunderschönen, 

mit würzigem Tabak angefüllten Pfeife, schob sie zwischen die Lippen 

und zog genussvoll den Rauch des Tabaks ein. 

In mir tauchte der Gedanke auf, dass er auf diese Weise zwischen die saubere Luft in seiner Lunge und der Pfeife

eine geheimnisvolle Mischung aus Gegenwart und Zukunft brachte.

Weshalb neigen wir dazu, Gesundes mit Giften zu vermischen? 

Sorgfältig entließ er den Rauch in kleinen, blaugrauen, wohlgeformten Wolken in den Raum.

Welcher unbestimmten, vorbestimmten Zukunft werden sie entgegenschweben?

Einen Moment lang genoss ich ihre anspruchslose Gegenwart, 

meine Nase verbündete sich mit dem Duft würzigen Tabaks.

Gegenwart, was war nun eigentlich mit der Gegenwart los?

Hatten wir dieser Frage die nötige Aufmerksamkeit gewidmet?

Ist dies die einzige Zeit die einzige Möglichkeit unser Sein zu bestimmen?

Was ist Gegenwart überhaupt?

Wenn ich mich in der Welt umschaue, kommt es mir so vor, 

als lebten die Menschen entweder in der Vergangenheit oder in der Zukunft.

Wann lebte ich eigentlich in der Gegenwart?

Wann bin ich gegenwärtig?

Die nächste Bemerkung meines Freundes ließ in mir den Verdacht aufkeimen er könne meine Gedanken lesen.

»Lass mich noch einmal zur Gegenwart zurückkommen. Die Frage ist doch, wann ist Gegenwart. 

Ich meine, wir könnten sie so beantworten; es ist die Trennlinie oder besser die Grenze in unserem Leben ist, 

an der sich entscheidet ob und wohin wir uns entwickeln. Es ist für mich der Augenblick, 

an dem sich die Gegenwart verwirklicht. Je länger ich darüber nachdenke, umso plausibler ist der Gedanke. 

Doch gleichzeitig auch noch schwieriger zu greifen. Vor einiger Zeit habe ich irgendwo gelesen, 

dass die Gegenwart ungefähr drei Sekunden dauert. Genau die Zeit, die wir benötigen, um ein- und auszuatmen.«

Ich schaute Lutz leicht irritiert an, ließ eine meiner ergrauten Augenbrauen nach oben wandern.

»Ich fühle, wir reiten die gleiche Welle, wenn ich so sagen darf.«

Für einen Moment tauchten Bilder eines bewegten Meeres in mir auf. 

Ich fühlte förmlich die hohen Wellen, die sich mir langsam näherten, um sich, 

der neuen Umgebung anpassend, am Sandstrand aufzulösen. 

»Deine Deutung der Gegenwart klingt einleuchtend. 

Nun würde ich dich gerne bitten, mir noch einmal deine Sicht der Zukunft zu erläutern, 

und zwar so, dass es für mich nicht zu kompliziert wird und ich dir folgen kann.«

Lutz schmunzelte.

»Nun ich will es versuchen, wenn ich auch nicht genau weiß, wie mir dies bei diesem Thema gelingen soll. 

Also zuerst einmal sind wir glaube ich uns über eines einig, eine Zukunft existiert. 

Damit meine ich eine Zukunft die wir gestalten und die durch unser Handeln entsteht.«

»Bedeutet das, ohne uns gebe es gar keine Zukunft?«, unterbrach ich Lutz.

»Ich sehe, es ist tatsächlich sinnvoll, den Begriff Zukunft grundlegender festzulegen. 

Wenn wir über die Zeit und damit über die Zukunft nachdenken, erscheint sie uns, 

als etwas Zweidimensionales, ich möchte sagen, als eine Linie. 

Auf dieser bewegen sich, in festgelegter Reihenfolge, 

die zeitlichen Zustände -- Vergangenheit, Gegenwart, um dann in der Zukunft zu enden. 

Zeit ist somit nicht wirklich fassbar.«

Ich war leicht verwirrt. 

Glaubte mein Freund tatsächlich mir auf diese Weise die Zukunft näher bringen zu können?

War dies der Weg, der mich verstehen ließ, was Zukunft ist?

Real, unreal?

Mein Freund sah meine offensichtliche Irritation, denn er kam unerwartet ins Stocken. 

Nach einem dem Nachdenken geschuldeten Zögern griff er seinen Faden wieder auf.

»Damit will ich sagen wir betrachten Zeit aus unserer menschlichen Perspektive. Sozusagen dreidimensional. 

Die vierte Dimension, die Dimension der Zeit ist noch immer nur für wenige erschließbar.«

Lutz hielt inne, griff nach seinem Glas. 

Dieses war inzwischen gefüllt mit einem ganz besonderen Tropfen, des edlen Rebensaftes. 

Ich habe es bisher nicht erwähnt, doch Lutz hatte, als guter Gastgeber, eine neue Flasche geöffnet. 

Das flackernde Kerzenlicht spiegelte sich im Wein. 

Ich ließ mich auf die mystische Stimmung ein. 

Durch das Licht der Kerzen gewann die Farbe Rot eine zusätzliche Dimension. 

Genussvoll trank er einen wohldosierten Schluck. Verführt griff ich nach meinem Glas. 

Eine Weile hielt ich ihn vor meine Augen und ließ mich von dem Flair des Weines beeindrucken. 

Lutz beobachtet mich dabei. 

Ein anerkennender Ausdruck überschwemmte sein Gesicht. 

Wir lächelten uns wissend an. 

Lutz ergriff, nachdem er das Glas zögernd zurückgestellt hatte, das Wort. 

»Was wir vergessen, wahrscheinlich vergessen, weil es unsere Fantasie übersteigt, ist, 

dass es sich bei der Zeit in Wirklichkeit um ein vierdimensionales Geschehen handelt. 

Albert E. hat mit seiner Relativitätstheorie erkennen lassen, dass die Zukunft zumindest die Gegenwart berührt,

vielleicht überschneidet, vielleicht ein Teil derselben ist. Ich möchte an ein bekanntes Beispiel erinnern.«

»Erinnere mich«, warf ich, von der Wirkung des Weines beeindruckt, ein. 

Ich bemerkte, dass Lutz mich leicht irritiert anschaute. 

Mit einer Geste der Entschuldigung forderte ich ihn auf weiterzusprechen. 

»Also nach Albert E. ist es so. Wenn wir uns mit knapper Lichtgeschwindigkeit von der Erde entfernen, 

und nach zehn Jahren wieder zurückkommen, sind auf die Erde 500 Jahre vergangen. 

Wobei ich anmerken möchte, dass die Zahlen möglicherweise nicht exakt mit der Wirklichkeit übereinstimmen.

Aber für das Prinzip, um das es hier geht, ist die nicht von Bedeutung. 

Wichtig ist die Vorstellung, dass die Zukunft, außerhalb des dreidimensionalen Raumes liegen muss.«

Er hielt kurz inne, um sich zu versichern, dass er meine volle Aufmerksamkeit besaß.

»Dabei fällt mir ein, was wissen wir eigentlich von den ersten drei Dimensionen, 

in denen wir uns doch scheinbar so mühelos bewegen?«

»Na ich denke, diese unteren Dimensionen sind für uns ziemlich leicht zu verstehen. Linie, Fläche, Raum.«

»Glaubst du? Ich habe meine Zweifel. Doch wenn du meinst, deine oberflächliche Beobachtung der Wirklichkeit,

lässt diesen Schluss zu, will ich dies einmal so hinnehmen. 

Eines ist jedoch sicher, die vierte Dimension bereitet uns immer noch große Probleme.«

»Sicher?«

»Was ist schon sicher? Wie auch immer, wir bewegen uns auf einer Kugel, die wir Erde nennen, 

und zwar im, für uns so gefühltem, leeren Raum. Trotzdem und das ist unabhängig von unserem Standort, 

fallen wir nicht von der Erde herunter.«

»Finde ich nicht besonders erstaunlich. Wäre es nicht so, könnten wir jetzt nicht über diese Tatsache nachdenken.

 Gab es da nicht jemand, der uns darüber aufgeklärt hat?«

Lutz ließ sich, sollte ich ihm Ärger bereiten durch meine Unterbrechungen, nicht aufhalten, 

seine Gedanken fortzuführen.

»Den gab es tatsächlich und es gibt die Menschen, die mutig sagen; dies liegt an der Schwerkraft, 

die uns festhält. Aber was ist, Schwerkraft? Hat irgendjemand das wirklich erklären können? 

Möglicherweise gab es einen, er nannte sich Isaac N., aber welcher normale Mensch versteht schon, 

was er uns sagen wollte? Seine mathematische Formel zur Schwerkraft lautet jedenfalls. F=G·(m1m2/d²)¹. 

Und wenn ich ihn richtig verstehe, besteht unsere Welt aus Zahlen und Formeln.«

Wie kam er jetzt von der Zukunft, der Zeit, zur Mathematik? 

Indem ich mich mit Schwung nach vorne beugte, konnte ich, so war wenigstens meine berechtigte Hoffnung, 

Lutz in seinem immer komplizierter werdenden Erklärungsversuch unterbrechen. 

Ich wollte ihm signalisieren, dass es an der Zeit wäre, das Gehörte erst einmal zu verarbeiten.

»Eine Welt aus Zahlen, welch seltsame Vorstellung«, murmelte ich vor mich hin. 

Langsam aber sicher schweifte er in geistige Dimensionen ab, denen ich nicht mehr so einfach folgen konnte. 

Doch nichts schien ihn aufhalten zu können, er befand sich in seinem Element und so fuhr er fort 

in seinem grandiosen Versuch, mir die (seine) Welt zu erklären.

Ich ergab mich meinem Schicksal.

»Die Welt besteht nicht aus Zahlen. Wenn auch einige glauben sie können mit Zahlen die Welt kontrollieren 

und mit diesem Wissen sie sich unterwerfen. 

Wie es auch immer sein mag, wenn wir etwas nicht erklären können, 

flüchten wir in die Welt der Mathematik. Wenn wir aber keine Formel finden die die Zusammenhänge erklärt, 

liegt es nicht daran, dass die Welt nicht Zahl ist, sondern an unserer Unfähigkeit die Kausalitäten zu verstehen. 

Ich behaupte, wir wissen nicht sicher, warum wir fest auf der Erde stehen, also suchen wir ein Wort, 

nennen das Phänomen Schwerkraft und schon fallen wir nicht von unserem Planeten. 

Auch wenn wir nicht verstehen warum, klappt das Verdrängen vom Unbekannten fast immer ohne Probleme. 

Aber lass uns dies erst einmal vergessen und kommen wir zurück zu den Dimensionen. Dritte Dimension. 

Handelt es sich dabei um einen Raum oder um ein Unbestimmtes, der in sich selbst gekrümmt ist? 

Was bedeutet das nun schon wieder fragst du, mein Freund.«

Lutz schaute mir direkt in die Augen, bevor er weiter erklärte. 

»Lange Rede, kurzer Sinn. Wenn sich uns der dreidimensionale Raum geistig noch nicht erschlossen hat 

und wir ihn deshalb auch nicht verstehen, können wir vermuten, dass die folgenden Dimensionen, 

mit der vierten Dimension der Zeit ist noch nicht Schluss, noch weniger verständlich sind? 

Um auf deine Anfangsfrage zurückzukommen, irgendwie haben wir keine Zukunft, 

weil jeder Gedanke ein Teil der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft gleichzeitig beinhaltet. 

Nehmen wir als Beispiel, für das was ich meine, einfach mal den Satz; "Ich lebe heute". 

Diese drei Worte sagst du zu mir. 

Sobald du allerdings das Wort "lebe" aussprichst, ist das Wort "ich" schon die Vergangenheit 

und das Wort "heute" wartet in der Zukunft geboren zu werden. Wohin also gehört der Satz, 

in welche Dimension?« 

Endlich, ich hatte schon geglaubt er würde sich in einen Rausch reden, ließ Lutz sich, ein wenig erschöpft,

in seinen Sessel zurücksinken. 

»Wenn ich für den Satz weniger als drei Sekunden benötige, eindeutig in die Gegenwart.«

Während Lutz mich nur erstaunt anschaute, konnte ich ein Schmunzeln nicht unterdrücken. 

In der Zeit, in der Lutz versucht hatte, mir seine Gedanken nahezubringen, 

hatte ich auch über die Dimensionen nachgedacht. Seine Worte hatten in mir eine alte Erinnerung wachgerufen, 

bei der es wie jetzt um Dimensionen ging. Jedoch nicht in Zeit und Raum. 

Vielleicht sollte ich die Gelegenheit nützen und dem Gespräch eine andere Wendung geben.

»Lutz erinnerst du dich noch, wie du mir einmal anhand des menschlichen Denkens die Dimensionen erklärt hast?«

Erstaunen taucht im Gesicht von Lutz auf.

»Nein.«

»Lass mich kurz nachdenken. Mal sehen, ob ich alles wieder zusammenbringe«, ich schloss die Augen und suchte.

Ich fand.

»Also ich denke, ich habe es zusammen. Da ist zuerst einmal das eindimensionale Denken, 

dies bedeutet, der Mensch ist ein absoluter Egozentriker, nichts besteht  außer der Person selbst.

Beim zweidimensionalen Denken ist es so, dass der Mensch in einer Gruppe lebt, nichts besteht außer der Gruppe.

Dreidimensionales Denken bedeutet, dass der Mensch im Hier und Jetzt lebt, nur dass jetzt ist wichtig, 

als das was wir Gegenwart nennen.

Vierdimensionales Denken bedeutet, dass der Mensch Zusammenhänge bildet. 

Er projektiert seine  Erfahrungen aus der Vergangenheit in die Zukunft. Fünfdimensionales Denken bedeutet, 

dass der Mensch sein Sein, gebildet aus seinen  gesamten Erfahrungen, verinnerlicht und diese extrapoliert, 

um zu neuen Ergebnissen zu kommen.

Sechsdimensionales Denken bedeutet, dass der Mensch auch das Gegenübergestellte verteidigen kann.

Siebendimensionales Denken bedeutet, dass der Mensch fähig ist, Neues zu denken, 

etwas das niemand im ersten Moment versteht, da es noch nie gedacht ist«.

Ich schaute Lutz direkt an, nachdem ich für einige Zeit auf den Bildern der Erinnerung gelesen hatte, 

»Ich glaube mich zu erinnern, ich habe dich richtig zitiert.«

»Da bin ich sicher«, erwiderte Lutz mit einem feinen Lächeln.

»Schön.«

Schweigen durchdrang den Raum. Die Kerzen im Leuchter waren ziemlich weit heruntergebrannt. 

Wieder einmal war die Zeit unbemerkt vergangen. Nachdem wir die Stille eine Zeit lang zugelassen hatten, 

griff ich den Faden erneut auf.

»Ich schlage vor, wir sollten diese Denkebene verlassen? Ich würde dir gerne einen fast 

vergessenen Traum erzählen. Er hat nichts, glaube ich wenigstens, mit Dimensionen zu tun. 

Ein Gefühl sagt mir, ich sollte ihn dir erzählen. 

Bist du einverstanden, wenn ich dieses Traumerlebnis in unser Gespräch einflechte?«

Ein Nicken von Lutz nahm ich als Einwilligung, meine Gedanken weiter auszuführen.

»Die Frage der Zukunft, der Zeit im Allgemeinen, wird dabei vielleicht auch berührt«, ich holte tief Luft, 

rief mir den Traum ins Bewusstsein und erzählte diesen, nach einer Pause, die künstlerisch wirken sollte, 

so gut ich konnte. 

»Seit unendlichen Äonen in Raum und Zeit existiert eine Wesenheit aus reiner Energie. 

Dieses Wesen bezeichnen viele mit dem Begriff Gott. Dieses Wesen weinte Tränen der Einsamkeit.« 

Ich griff nach meinem Weinglas, genoss sorgfältig dessen Inhalt und versuchte 

eine gewisse Spannung entstehen zu lassen.

»Dieses Wesen, diese energetische Kraft, ach was Solls, nennen wir diese Kraft ,

wie die meisten von uns Gott. 

Auch auf die Gefahr hin, dass wir unsere Vorstellung dadurch begrenzen. 

Also Gott war gefangen in seiner Einsamkeit. 

Allein und ohne Reflexion durchwebte er die Dimensionen und die Unendlichkeiten. 

Gott umgab überall unbelebte Materie. Irgendwann hielt Gott auf seiner Suche inne und kam zur Ruhe. 

Während er all das Tote im Nichts betrachtete, begann er unerwartet, überraschend, zu weinen. 

Neugierde ergriff mich und ich forschte nach dem Grund, konnte ihn jedoch nicht finden. 

Ich, der ich vielleicht eine seiner Tränen war und bin, fühlte mit jeder Faser meines Herzens 

seine unendliche Traurigkeit. 

Seine Tränen, in Millionen verschiedener Größen, schwebten als kleine regenbogenfarbene Energieinseln, 

durch das unendliche All. Manche dieser Inseln verbanden sich absichtslos mit der Materie des Alls 

und veränderte diese. Die Materie verwandelte sich bei jeder Berührung. 

Ich erkannte nicht gleich, was mit dem Universum vorging. Doch dann wurde es mir deutlich. 

Leben entstand, manifestierte sich im Raum. Und noch etwas geschah, die Zeit trat in Erscheinung. 

Geboren aus dem Nichts, entstanden Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. 

Ich sah Planeten auf denen Zivilisationen entstanden und wieder verschwanden. 

Ich sah den Kreislauf vom Werden und Vergehen. Nichts hatte bestand. Ich sah unsere Erde. 

Sie war am Anfang nicht blau. Sie war ein unförmiger dunkler Ball in den Weiten des Universums. 

Doch auch die Erde veränderte sich, als eine Träne Gottes sie berührte. 

Doch hier geschah noch etwas, Bewusstsein wurde auf ihr geboren. 

Während alles im Werden begriffen war, entstand ein erstes Gesetz. Das Gesetz von Raum und Zeit. 

Raum und Zeit gingen eine Beziehung ein. Immer intensiver begann dieses Gesetz zu wirken 

und das Leben unterwarf sich dem Gesetz. Doch ich greife vor.«

Ich hielt kurz inne, um meinen Traum plastischer werden zu lassen. Lutz schaute mich aufmerksam an.

»Unzählige Galaxien wurden erfüllt von der Energie Gottes. Jedem Atom, 

welches sich bisher ziellos im Weltall bewegte, wurde eine neue Komponente hinzugefügt. 

Als Gottes Tränen versiegten, er einen klaren Blick bekam und sich umblickte, 

erkannte er das Ausmaß seiner Tränen, erkannte die Wirkung seines Seins, welches Ausdruck seiner Tränen war. Verblüfft blickte er auf das Neue, auf das Füllhorn des Seins. 

Dort wo einmal Leere war, gab es jetzt Leben in unzähligen Formen. Er konnte es kaum glauben. 

Ein unbekanntes Gefühl ergriff sein Denken, Staunen beherrschte seine Gedanken und er lächelte. 

Sein Lächeln breitete sich von ihm aus und überschwemmte das gesamte Universum. 

Ich fragte mich … 

Eine Außenwirkung ließ meinen Traum verblassen, er begann an Intensivität zu verlieren, 

ich fragte mich, würde jetzt das eigentliche Spiel beginnen?«

Ich schwieg und ließ die Frage im Raum schweben. Die Aufmerksamkeit von Lutz wandelte sich Gespanntheit.

»Der Kreislauf von Geburt und Sterben begann, hab ich recht«, sprach er betont leise.

»Beinahe, doch der Tod, so wie wir ihn heute verstehen, war nicht von Anfang an Begleiter 

der kosmischen Verwicklungen. Doch nicht so hastig, mein Freund. Mein Traum ging weiter, 

benötigte meine ganze Aufmerksamkeit. 

Ich sah Bilder der Erde, wie sie vor Milliarden von Jahren aussah. 

Ich sah Chaos, welches auf unserer Welt herrschte. 

Ich hatte den Eindruck, es wurde gefressen, assimiliert und alles unterlag der Anpassung. 

Der Gedanke das Starke würde das Schwache ausmerzen, wurde wohl in diesem Augenblick geboren.«

»Also gab es den Tod doch von Anfang an.«

Ich stutzte. 

»So habe ich meinen Traum an dieser Stelle nicht interpretiert. 

An dem Punkt in der Ewigkeit ging es um etwas anders. 

So wie ich im Nachhinein interpretierte ging es darum, seine eigene Vorstellung durchzusetzen. 

Die Bedeutung und die Qualität des Todes können wir ja vielleicht später noch vertiefen. 

Jetzt möchte ich zuerst einmal meinen Traum weiterschildern. 

Gott schaute also zu, wie sich in Jahrmilliarden, nach unserer Zeitrechnung, Galaxien, Sonnensysteme, 

Sonnen und Planeten allmählich immer mehr manifestierten. 

Während Gott zuschaute, durchwirkte ihn ein Glücksgefühl, verbunden mit einer Spur Negativem. 

Irgendwann schien er mitspielen zu wollen. Ich glaubte zu erkennen, wie er es versuchte, 

wie er versagte, wie ihm seine Unternehmungen misslangen. Allzu gewaltig, zu endlos war das Universum. 

Immer mehr Galaxien entstanden. Eine nicht zu lösende Aufgabe. 

Gott bekam einfach keine Kontrolle über sein Handeln. Das Chaos entzog sich ihm immer wieder. 

Er wollte lenken, wollte eingreifen, wollte verändern, die Dinge so regeln, wie es ihm an angemessen erschien. 

Er wollte einen, seinen Kosmos erschaffen. Doch sehr bald musste er anerkennen, 

dass sich immer mehr das Innen und das Außen ihm entzog und so entschied er aufzugeben 

und endlich zuzulassen. Inzwischen wurden auch die Auseinandersetzungen der materiellen Welt weniger. 

Die Masse kam zur Ruhe. Eine Zeit der Stille erfasste das All. 

Nur sehr weit entfernt war der leise gleichmäßige Atmen Gottes zu hören. 

Und dann, ich weiß nicht, ob es an mir lag, veränderte sich der Blick auf das Universum. 

Ich bekam einen Tunnelblick. Mein Sichtfeld schrumpfte auf wenige Eindrücke zusammen. 

Ich fühlte Energien, mächtige und feine. Diese flossen auf einen Planeten zu. 

Ich erkannte das Sonnensystem und den Planeten. Eindeutig meine, unsere Welt. 

Die göttlichen Energien durchdrangen die Erde. Irgendwann schien der Prozess abgeschlossen 

und die Energien wurden Eins mit unserer Erde. Ich fühlte jede Schwingung, spürte, 

wie sie Teil des Vorhandenen geworden sind. Für immer mit der Welt verhaftet. Gott und unsere ...«

Lautstark drang das Geräusch von strapaziertem Leder in meine Gedankenwelt. 

Ganz im Gegensatz zu seinem sonstigen Verhalten, rutschte Lutz auf seinem Sessel hin und her, 

lenkte somit meine Aufmerksamkeit von meiner Gedankenwelt ab und auf ihn. 

Er schien dies zu bemerken, hielt inne und lehnte sich mit einer entschuldigenden Geste vorsichtig zurück. 

Da er schweigsam blieb, griff ich meinen Traumfaden wieder auf. 

»Äonen kreiste die Erde um die Sonne und es sah so aus, als würde, zumindest oberflächlich gesehen, 

Stagnation auf ihr vorherrschen. Nichts veränderte sich, die Erde blieb ein kalter Gesteinsbrocken. 

Die allumfassende Energie, die ich weiterhin Gott nennen möchte, 

weil das Wort für mich am Besten Allmacht ausdrückt, 

begleitete lange Zeit distanziert diese kleine unförmige Kugel. 

Irgendwann veränderte sich das Schwingungsmuster. Erst schwach, schließlich kräftiger. 

Ich vermute, die göttliche Energie wurde ungeduldig. Keine Ahnung warum. 

Oder kannst du dir einen Grund vorstellen?«

Da ich meinen trockenen Hals spürte, griff ich nach meinem Glas und trank einen Schluck Wein. 

Lutz ging auf meine Frage nicht ein, sondern schwieg. Offensichtlich dachte er über das Gehörte nach. 

Ich ließ ihm noch ein wenig Raum, bevor ich weitersprach.

»Mir drängte sich das Gefühl auf, als grüble Gott darüber nach, ob und wie er eingreifen konnte, 

um endlich etwas zu verändern. Dann ohne erkennbaren Übergang verdichtete sich das Universum. 

Vielleicht nur eine Nuance, doch deutlich spürbar. Plötzlich durchdrang grelles Licht meine Wahrnehmung. 

Einem vielfarbigen Nordlicht gleich, wetterleuchtete es in meinem Gedankenuniversum. 

Endlich konnte ich wieder wahrnehmen. Dunkelheit wandelte sich in Licht. 

Licht und eine neue Schwingung erfüllte die scheinbare Leere.«

»Was meinst du mit scheinbar«, unterbrach mich Lutz.

Fragen?!

»Nun ist es nicht so, dass wir einen leeren Raum im All vermuten? 

Ist es nicht so, dass wir denken im Universum herrscht überwiegend Leere? 

Nun wie es auch immer sein mag, für einen Augenblick fühlte ich mich hilflos. 

Es dauerte einige Zeit, bis ich mich auf das Neue eingestellt hatte. 

Dann griff etwas nach mir und ich begann immer höher und höher zu steigen, 

bis ich schließlich über der Erde schwebte, die sich mir lichtdurchflutet und blau darstellte. 

Ohne dass es mir jemand gesagt hätte, wusste ich, was geschehen war. 

Es gab keinen Zweifel, Gott oder die Energie, die wir Gott nennen, hatte etwas Unglaubliches geschaffen. 

Ich sah in das Dunkel des Raumes und konnte überall Sterne erkennen. 

Ich wendete mich staunend der Erde zu und erkannte, 

wie sie von der von Gott erschaffenen Sonne mit neuer Kraft durchdrungen wurde. 

Ich erkannte, wie die Erde intensiv ein- und ausatmete. Die Kraft des Lichtes gab ihr eine neue Komponente. 

Ich spürte und fühlte, wie die Materie vom Leben des Allseins durchdrungen wurde 

und ich erfühlte eine weitere Komponente. Eine Kraft, die wir Seele nennen. 

Das Leben verband sich mit ihr und es entstand etwas Neues. 

Nach diesem Akt der Schöpfung zog sich Gott unerwartet zurück. 

Vielleicht hatte ihn der Vorgang zu viel Kraft gekostet? 

Wie auch immer von nun an bildeten vier Teile ein Neues. 

Materie, Leben, Seele, Geist. Etwas Einmaliges im Universum war geboren.«

Ich verstummte.

»Ein seltsamer Traum.«

Lutz sprach leise, fast andächtig. Wir sahen uns stumm an. 

Nach einem längeren Schluck Wein und nachdem ich mich etwas bequemer hingesetzt hatte, 

gab ich meinen Gedanken ihre Freiheit. 

»Ja ein ungewöhnlicher Traum, aber doch nur ein Traum. Wahrscheinlich war alles ganz anders. 

Doch eines können wir lernen«, ich ließ den Wein nachwirken, von dem sich noch Nuancen auf meiner Zunge befanden, 

»so wie bei einem guten Wein, genauso kommt es auch beim Menschen auf eine ausgewogene Mischung an. 

Nur dann kann uns ein erfülltes Leben und Wachstum zuteilwerden. 

Wenn die Teile in einer bestimmten Größe, in einer ausgewogenen Qualität in deinem Körper vereinigt sind, 

darfst du dich einen glücklichen Menschen nennen. Denn in diesem Fall entsteht aus Bewusstsein, das Sein.«

Ich hielt inne, um den Gedanken Möglichkeiten zu geben.

Lutz schwieg. 

»Genau die Erkenntnis, dass wir mehr sind als Materie, dass wir auch eine Seele haben, das wir sind,

ermöglichte es schließlich, uns als unsterblich zu erkennen. 

Dies war der Moment, an dem wir glaubten oder wussten, es gab ein Schicksal 

und es zu erfahren und es zu leben, ergab einen Sinn. Wir erkannten die Möglichkeit der Wahl 

und wir wussten, alles hat einen Sinn. 

Nenne es Zufall, nenne es Fügung, nenne es Einfluss Gottes auf unsere Welt. 

Du wirst es vielleicht nicht glauben«, ich lachte leise, 

»doch auf unserer Erde, wurde tatsächlich die richtige Mischung gefunden. 

Ich weiß nicht, ob es noch mehr Experimente gab, doch auf unserer Welt scheint es gelungen zu sein.« 

»Aha, war das so? 

Wäre es nicht langsam interessant, den Begriff Gott und im Zusammenhang damit, die Seele, 

das Göttliche in uns, näher zu erläutern«, Lutz unterbrach, ein wenig abrupt, wie ich fand, 

die Schilderung meines Traumes. 

Einem Traum, von dem ich nicht wusste, woher er kam.

War er vielleicht Erfahrenes aus längst vergessener Zeit?

Entsprach er vielleicht einer Wirklichkeit, einer Realität, von der ich ein Teil war, wir alle waren?

Ich wusste es nicht.

Bevor ich mich äußern konnte, sprach Lutz, leicht erregt, weiter.

»Ich denke, das sollten wir auf jeden Fall einmal diskutieren, denn es ist ein wesentlicher Aspekt unseres Seins, 

der mich schon lange beschäftigt. Gott, Seele oder Nichtseele, das sind wichtige Fragen. 

Nur mal so zum Beispiel, wie ist es möglich, dass bei immer mehr Menschen die, die Erde bevölkern, 

für jeden, eine Seele zur Verfügung steht.«

Die Fragen von Lutz erstaunten mich immer wieder.

Doch war ich bereit für eine Antwort?

»Willst du nicht wissen, wie der Traum weitergeht?«

Da Lutz schwieg, interpretierte ich sein Schweigen, als nein.

»Du sprichst da einige interessante Punkte an. Konzentrieren wir uns erst einmal auf Gott. 

Nehmen wir doch als Einstieg das Bild Gottes aus meinem Traum.«, 

ich ließ eine erwartungsvolle Pause entstehen, »in meinem Traum war Gott reine Energie, 

hatte keinen Anfang und kein Ende. Er war und ist überall. Seltsam ist allerdings, 

dass ich ihm Eigenschaften zuwies, die ich an mir selbst nur allzu gut kenne. 

Er konnte weinen, war traurig, handelte ungewollt und gezielt. Hatte Erwartungen.«

Ich schwieg. 

Meine Gefühle überwältigten mich.

Nach einer Phase der Stille sprach ich weiter.

»Wenn ich mich in der Meditation, ganz tief nach innen konzentriere, fühle ich genau die gleiche, 

reine Kraft, die ich in meinem Traum gespürt habe.« 

»Was meinst du mit reiner Energie, reiner Kraft?«, unterbrach mich mein Freund.

Ich schaute Lutz lange an, spürte eine leichte Nervosität.

»Schwierig zu beantworten. Ich weiß nur, wir alle sind Energiewesen, 

doch haften wir noch beharrlich an der Materie, die unser wahres Sein verunreinigt. Gott ist nur noch Energie. 

Eine Kraft ohne einen noch so winzigen Teil von Materie. Und dies seit dem Anbeginn der Zeit.«

»Nicht einmal ein Atom.«

Ein Schmunzeln breitete sich im Gesicht meines Gegenübers aus.

Ich ignorierte es.

»Zu sein, wie diese Energie ist, muss unser Ziel sein. Wir alle sehnen uns danach, ist sie erst einmal erkannt, 

von dieser Energie durchdrungen sein.«

»Wie meinst du das? Willst du damit sagen, Gott ist Energie, wir sind Energie, zwar verunreinigt, 

aber doch die gleiche Energie? Lösen wir uns auf, wenn wir Teil dieser Energie sind? 

Wie können wir überhaupt Teil von Nichts sein? Nichts! Müssten wir nicht daraus schließen, 

Gott existiert gar nicht?«

»Du sprichst einen wunden Punkt an oder besser deine Fragen berühren den Bereich der Blasphemie 

und des Ungewissen. Ich bin überzeugt Gott existiert und gleichzeitig existiert er nicht. 

Genauso wie wir Gott sind und es wiederum nicht sind.«

»Das verstehe ich jetzt nicht. Du meinst, Gott existiert und doch existiert er nicht?«

»Besser hätte ich es nicht ausdrücken können.«

Lutz verstummte und ich konnte deutlich sehen, wie es hinter seiner Stirn rumorte. 

Diesmal konnte ich mir ein Schmunzeln nicht verkneifen.

»Gibt es nun Gott oder gibt es Gott nicht?«

»Die Antwort auf diese Frage kann doch eigentlich nur sein, greife nach dem Ton, der dich berührt.«

Lutz schaute mich irritiert an.

»Du meinst, jetzt ist die richtige Zeit, um mit der Art eines Koans zu antworten?«

Lutz schien leicht verärgert und blieb stumm.

»Es ist schon ein wenig irritierend für mich. Hast du nicht einmal genau diese Frage, die Frage nach Gott, 

als nicht beantwortbar hingestellt? Trotzdem soll ich jetzt versuchen dir eine eindeutige Antwort zu geben.«

Lutz griff nach seiner Pfeife, die er kurz weggelegt hatte, und zog zwei- oder dreimal am Mundstück. 

Etwas zu hastig, wie ich fand. Kurz behielt er den Rauch im Mund, seine Lungen belästigte er nicht 

mit dem nicht ganz ungefährlichen Qualm, um ihn schließlich stoßweise in die Freiheit zu entlassen.

»Stimmt! Jetzt wo du das sagst, erinnere ich mich. Deshalb erwarte ich keine klare Antwort, 

doch ich wollte jetzt nicht auch noch japanisches Zen.«

Lutz schien leicht verstört oder verärgert zu sein.

»Nun vielleicht sollte ich, um es besser zu verstehen, etwas über unsere Sprache 

und etwas über die Vorstellung eines Zwiebelmodels von unserem Universum sagen. Zuerst zur Sprache. 

Gott ist Teil unserer Sprache und deshalb muss Gott auch ein Teil unserer Erfahrung sein. 

Ist nicht einfach zu verstehen, wenn wir nur dreidimensional oder die ganz Schlauen

 vielleicht vierdimensional, denken und reden.«

»Was verstehst du nun schon wieder unter dem Zwiebelmodell? 

Bisher habe ich nichts davon gehört.«

»Dazu komme ich gleich. So viel jetzt, das Modell ist eine Vorstellung von mehreren. 

Das Modell soll erklären, wie das Universum auf einer spirituellen Dimension aufgebaut ist.«

»Du meinst, das Universum ist eine Zwiebel?«

»Lutz ich bitte dich. Die Zwiebel soll als Metapher gelten, denn sie besteht, 

wie du sicher weißt, aus sieben Schichten. Wie deine sieben Dimensionen. 

Sie beschreibt ein Modell hin, anhand dessen, du ein tieferes Verständnis über unseren Weg gewinnen kannst. 

Es wurde schon vor langer Zeit entworfen.«

»Entschuldige ich wollte nicht negativ rüberkommen.«

Lutz griff nach dem Weinglas. 

»Schon in Ordnung. Wir beide verstehen das Universum ganzheitlich. 

In dem Modell, an welches ich mich zu meinem Bedauern nur noch schwach erinnere, 

geht es jedoch eher um die spirituelle Welt. Einer Welt, in der alles Schwingung ist. 

Von der Materie, über das Feinstoffliche, bis zum Höchsten.«

»Klingt interessant. Ich würde gerne mehr erfahrenass r um.«

»Nun dann wollen wir mal sehen, ob ich alles zusammenbringe. Die erste Schicht ist wohl eindeutig die Materie.

 Dies wäre die erste Schale, auf der das Leben beginnt, ein zweidimensionales Dasein. Anfang und Ende. 

Kreislauf der Grundstoffe.«

»Und die zweite Schale?«

»Dies wäre die dritte Dimension. In ihr drückt sich das Leben aus. 

In oder auf der zweiten Schale entwickelt sich das Dasein. Körper, Leben, Bewusstsein.«

»Klingt logisch.«

»Die dritte Ebene, also dritte Schale, nach allgemeiner Vorstellung die vierte Dimension 

ist der Lebensraum unseres Astralkörpers. Auf ihr wirkt Anfang und Ende, Geburt und Erneuerung, 

Wiedergeburt und auf die Zeit. Der Kreislauf des Lebens beginnt.«

»Das bedeutet, wir leben momentan auf der dritten Schicht, des kosmischen Zwiebelmodells.«

»Genauso ist es. Auf dieser Ebene sind Lernen und Erfahrungen möglich. 

Wir haben die Möglichkeit, die Welt und uns zu begreifen. Die vierte Ebene«, 

ich unterbrach mich, um nachzudenken, »die fünfte Dimension, können schon weniger erkennen, 

geschweige begreifen. Sie ist feinstofflich.«

»Na ja«, Lutz wurde langsam wieder munter, »wahrscheinlich der Raum der Seele. 

Hier existiert sie, bis sie wiedergeboren wird. Ich würde sagen, 

dies ist schon ein wenig sehr außerhalb der Erfahrungswelt der meisten Menschen. Deshalb schwer vorstellbar.«

»Ich kann dir nur zustimmen«, erwiderte ich, »Wie schwer wird es uns dann erst fallen, 

die letzten drei Schalen zu verstehen? Lass mich zur fünften Schale kommen. 

Sie ist uns allen nicht ganz unbekannt. Wir benennen sie als Astralebene oder ätherische Dimension. 

In oder auf dieser Ebene existieren wir, nachdem wir uns weitestgehend gelöst haben, von der Materie.«

»Die Ebene der Geister und Engel.«

Lutz schien gefallen an meinen Ausführungen zu finden.

»Geister vielleicht, Engel eher nein.«

»Ach ja?«

»Nun in diesem kosmischen Modell bevölkern die Engel die sechste Ebene, Schale. Die fünfte Ebene ist, es wird dich nicht wirklich überraschen, zeitlos. Auf dieser Ebene leben die Wesen, die diese bevölkern ohne die Gefangenschaft der Zeit. Doch sie haften noch immer an den unteren Ebenen.«

»Zeitlose Wesen. Eine interessante Vorstellung. Aber wäre dies nicht Gott vorbehalten?«

Ich konnte ein Lächeln nicht unterdrücken. Es war mir ein bisschen peinlich. Mein Freund hätte es missverstehen können. Doch es war nur Ausdruck meiner Freude.

»Gott? Nun Gott ist Teil der siebten Schale.«

Ich verließ meine Gedankenwelt, musste mich etwas sammeln. Als ich wieder im Hier war, stellte ich überrascht fest, dass ich mein Weinglas in der Hand hielt. Keine Ahnung, wie es da hinkam. Ich stellte, nach einem kleinen Schluck, das Glas zurück, lehnte mich zurück und entwickelte meine Gedanken weiter. 

»Gott ist Energie, darauf hatten wir uns ja schon geeinigt. Er schließt alle Ebenen in sich ein. Von der ersten bis zur siebenten Dimension. Logischerweise ist er nicht Teil, sondern er ist die achte Dimension. Aus dieser sind all die anderen Ebenen entstanden. Er steht über diesen Ebenen und ist jede davon. Gott ist die Kraft, die das Universum mit seinen sieben Schalen zusammenhält.«

Ein Gefühl der Trauer erfasste mich.

Weshalb fühle ich Trauer?

Ich wusste es nicht. 

Um mich abzulenken, nahm ich einen großzügigen Schluck aus meinem Weinglas und fuhr fort.

»Es ist schon erstaunlich wie und weshalb sich solche Gedanken in den Köpfen einzelner Menschen festsetzten konnten. Aus welchem Gründen bauten sie ausgerechnet dieses Glaubensmodell. In Zeiten, in denen es sicher andere Probleme gab. Ich frage mich außerdem, weshalb unsere Altvorderen etwas über den Aufbau des Universums wissen wollten.«

»Um es zu beherrschen?«, warf Lutz ein.

»Für mich ist es nicht ganz einfach«, ich ignorierte die Bemerkung, «mir vorzustellen, auf welchem Weg ein Mensch oder eine kleine Gruppe von Menschen, sich dieses Modell erdenken konnten. Immerhin, eine Vermutung, konnten sie nicht auf ein solches Reservoir von Wissen und Erfahrung zurückgreifen, wie wir heutzutage tun, wenn wir ein Problem lösen wollen.«

»Stimmt, das ist auch ein interessanter Punkt.«

Lutz unterbrach mich ein zweites Mal. Doch ich war noch nicht bereit meine Gedankenkette zu verlassen.

»Außerdem dürfte die Vorstellung interessant sein, dass es ein Archiv geben soll, welches vielleicht in der fünften Schale verborgen ist. Alle Entdeckungen, alles Wissen im Laufe unserer Geschichte, soll dort aufbewahrt werden. Es soll immer mal wieder Menschen geben, die zu diesem Wissenspool, zugriff haben. Außerdem soll es einen Schlüssel geben, den jeder in sich trägt und mit dem jeder, der den Schlüssel in sich entdeckt, einen Zugang zum Archiv hat.«

»Was für ein Archiv.«

Lutz richtet sich im Sessel auf. Er wirkte erregt. Offensichtlich um sich zu sammeln, rutschte er auf seinem Sessel hin und her. 

»Nun seit Anbeginn der Zeit werden alle Gedanken, alle Handlungen aufgezeichnet. Du erinnerst dich vielleicht an Aussagen der Bibel. Gott weiß alles, hat alles festgehalten.«

Ich versuchte mich an etwas Genaueres zu erinnern und tatsächlich fiel mir etwas ein.

»Ich erinnere mich an eine Aussage, die mich stutzig werden ließ. Jahwe wird seinen Namen unter dem Himmel auslöschen. Als ich dies las, kam mir der Gedanke, muss ein Name nicht zuerst aufgeschrieben sein, damit er wieder gelöscht werden kann? Weiter wird in der Bibel das Buch des Lebens erwähnt. Buch, Bücher, Archiv.« 

Lutz konnte sich nicht mehr zurückhalten. Offensichtlich hatten sich einige Emotionen in ihm aufgestaut.

»Das glaubst du doch nicht wirklich. Ein Archiv in dem alle Handlungen, alle Taten und vielleicht noch die Zukunft festgehalten ist. Die Bibel als Quelle für solch eine Vorstellung erscheint mir sehr weit hergeholt«, Lutz stockte kurz, sammelte sich, » nun ja, nichts ist unmöglich. Auch in der Bibel steckt bestimmt ein Teil Wahrheit. Nicht alles, was wir darin lesen können, können wir einfach der Fantasie der damaligen Menschen zuschreiben. Und du meinst tatsächlich, es gibt außer unseren fünf Sinnen, es noch einen sechsten Sinn gibt? Einen Sinn, der den Schlüssel darstellt, um in eine andere Dimension zu schauen.«

»Genau das meine ich. Es ist jedoch nicht der sechste Sinn, sondern der siebente Sinn, auf den es ankommt und den wir vergessen haben«, erwiderte ich gelassen.

Ich griff nach dem Wein und trank den wenigen Rest.

Lutz schwieg, dachte nach.

»Vielleicht solltest du dir das Archiv wie eine Dimension zwischen den Dimensionen vorstellen. Sozusagen als Abbildung oder Doppelung.«

Deutlich konnte ich erkennen, wie Lutz mit seinem Engel und seinem Teufel, um die Vormacht stritt. 

Der Engel siegte. 

Dachte ich.

»Kann ich mir zwar schwer vorstellen eine Parallelwelt in Buchform und ich auch habe noch nie etwas davon gehört.«

»Buch ist doch wohl eher eine Metapher als eine Realität«, unterbrach ich ihn lachend.

»Ja du hast recht. Warum eigentlich nicht«, Lutz entspannte sich sichtlich, »auf jeden Fall stimme ich dir zu, es gibt Unbekanntes, wir kennen nicht wirklich viel und wir verstehen noch weniger. Mir ist bewusst, unsere Wissenschaft hat nicht auf alles eine stimmige Antwort. Noch nicht. Doch ich bin überzeugt. Eines Tages werden wir Zeit und Raum besser verstehen. Trotzdem, bis es so weit ist, warum nicht, lassen wir Gedanken in dieser Form zu.«

Lutz verstummte und schloss die Augen. 

Er versuchte, so interpretierte ich ihn, sich auf meine ihm fremde Welt einzulassen. Entspannt, einen Zuhörer vor mir wissend, griff ich meinen Faden wieder auf. 

»Menschen die dasTalent besitzen in sich hineinzuhören, wussten, na vielleicht spürten sie es eher, da gab und gibt es etwas über das normale Wahrnehmen hinaus. Ich bin überzeugt, es gibt einen Spirit, der das gesamte Universum durchdringt.«

»Einen Spirit, einen Geist, einen Gott!«

Lutz lachte laut auf. 

Ein Zeichen, wie sehr er am Thema interessiert war.

»Und ich glaube, die, die Spiritualität in sich fühlen, fangen an, immer tiefer in sich hineinzugehen und in ihren eigenen Abgründen nach der Wahrheit zu suchen. Vielleicht sollte ich besser sagen, sie fangen nicht einfach an, sie fühlen sich aufgefordert herauszufinden, was in ihnen wirkt. Sie spüren tief in ihrem Herzen, wie wichtig es für sie ist, das Unbekannte, das Verborgene zu erforschen und zu verstehen. Natürlich wissen wir, wer sucht, der findet häufig nur das, was er schon kennt, doch ab und zu findet der Suchende auch etwas Neues. Heute können wir von ihrer Suche, von ihrer Bereitschaft Neues zuzulassen, profitieren. Allerdings nur, wenn wir bereit sind, auch dem schon einmal Gedachten erneut zuzuhören.«

»Wenn ich dich jetzt richtig verstehe«, Lutz konnte nicht mehr an sich halten, unterbrach mich lauter, als es dem Raum zukam, »hat nicht einer allein die sieben Schichten entdeckt. Es waren wohl viele, die sich daran versuchten?«

Ich lächelte und ließ seine Worte ausklingen. Das Raumzeitgefüge konnte etwas Ruhe gebrauchen.

»Davon gehe ich aus. Es sind immer viele, die an Erkenntnissen arbeiten, wenn es auch meistens nur einer ist, der die unterschiedlichen Fäden aufnimmt und sie zu einem Ganzen, einer in sich stimmenden Logik zusammenführt. Daraus schlussendlich ein Modell entwickelt, wie zum Beispiel dieses Zwiebelmodell.«

»Dieser Aussage stimme ich vorbehaltlos zu. Doch kommen wir doch zurück zu unserer Zwiebel«, Lutz sprach nun wieder leiser, » eine Frage bleibt offen. Welche Schwingung herrscht hier auf der sechsten Ebene?«

Lutz überraschte mich doch immer wieder.

»Und ich dachte schon, du hättest diese Schale vergessen. Also schön kommen wir zur sechsten Ebene. Dies ist eine ganz besondere Ebene oder Dimension, weshalb ich sie, vielleicht, übersprungen habe. Diese Dimension schwingt die Liebe in ihrer reinsten Form. In ihr wirkt die vollkommene Liebe über alles Bisherige hinaus.«

»War die Liebe nicht schon Teil der dritten Ebene?«

»Gute Frage, nächste Frage.«

Ich konnte die Bemerkung nicht unterdrücken. 

Die Frage hatte ich nicht erwartet und, wahrscheinlich lag es an der späten Stunde, sie rief in mir das Gefühl der Ungeduld wach. Ich musste mich ein wenig sammeln. 

Nach einem genussvollen Schluck von der edlen Traube des Trollingers antwortete ich langsam und bedächtig.

»Nein ernsthaft. Jede höhere Ebene wirkt auf die untere Ebene. Nur bei der Liebe ist es anders. Sie wirkt, existiert auf jeder Ebene, ist immer, wenn auch abgeschwächt wirksam. Die Liebe, wie wir sie kennen, ist demzufolge nur einen Hauch dessen der wahren, allumfassenden Liebe. Sex!«, das Wort verließ mich wie eine abgefeuerte Kugel und die damit verbundenen Gedanken nahmen ihren Lauf. »Zum Beispiel glauben viele Sex bildet mit Liebe eine Einheit. Doch frage ich mich oft, was hat Sex mit Liebe zu tun? Sex dient doch zu allererst der der Befriedigung einer der vier Grundbedürfnisse nämlich der Fortpflanzung. Wir vereinigen uns, haben mehr oder weniger Spaß dabei, spielen, finden Befriedigung. Doch bei all dem kann ich weit und breit keine Liebe sehen. Es geht doch zuvorderst nur darum, die Gene zu verbreiten. Liebe gleich Sex eine kaum vorstellbare Vorstellung, wenn du Liebe einmal bewusst erfahren hast. 

Und wenn ich schon dabei bin, sprechen wir noch von der käuflichen Liebe. Liebe kaufen zu können, welch absurder Gedanke. Was für eine menschliche Tragödie, was für ein Abgrund tut sich hier auf. Es ist der Sex, der käuflich ist, nicht die Liebe. Aber wir wollen ja alles bemessen, bewerten, da wir ja nur an das glauben, was einen materiellen Wert hat. 

Doch ich will nicht einseitig sein, alles hat mindestens zwei Seiten und für Eingeweihte sogar noch eine Dritte. 

Beim Sex können wir eine Ahnung von dem Gefühl tiefer Vereinigung erleben. Ab und zu wird Sex von etwas Besonderem begleitet, von etwas, das uns erahnen lässt, wie tief wahre Liebe sein kann. Auf dieser dritten Zwiebelschale gibt uns körperliche Vereinigung ein Gefühl dafür, welche Kraft das Einssein haben kann. Welche Wirkung Liebe haben kann. Doch vergessen wir einmal Sex als Synonym für Liebe. Wir wissen es gibt weitere Formen, um Liebe zu erfahren. Denken wir an die Elternliebe oder umgekehrt an die Liebe der Kinder, die sie für ihre Eltern empfinden. Denken wir an die Liebe, die wir der Natur entgegenbringen. Vergessen wir des Weiteren nicht unsere Liebe zur Musik, bildender Kunst und Literatur. Zu Menschen, die uns ohne körperliche Verbindung nahe sind. Allerdings ist es in vielen Fällen so, dass wir auch hier nur einen Abglanz, der wahren, der vollkommenen Liebe erlangen. Nur in sehr seltenen Momenten fühlen wir, was wahre Liebe ist und doch, in ihrer Reinheit, bleibt sie ein Geheimnis.«

Es war nur eine winzige Bewegung. Doch sie ließ mich innehalten. Ich sah, wie sich die Stirn meines Freundes in Falten legte. Eine innere Stimme sagte mir, halt inne und denke über deine Worte nach. Ich tat wie geheißen, doch konnte ich nichts Verwerfliches finden. Mir erschien alles stimmig. Nur eines ließ mich nachdenklich werden. Vielleicht waren meine Worte zu absolut. Lutz ergriff das Wort, leise und unaufgeregt.

»Vergessen wir jetzt erst einmal die Qualität der Liebe. Reflektieren wir noch einmal die siebente Ebene. Obwohl, eigentlich ist es nicht mehr nötig, denn ich gehe davon aus, wir sind uns einig, sie wird von Gott oder einer alles erfassenden Energie bewohnt, die sich uns entzieht und doch gleichzeitig in uns wirkt und wohnt.«

»Wohnt, eine schöne Metapher. Du hast recht diese höchste Ebene gehört der Energie, die wir göttlich nennen, aber nicht mit unserem allgemeinen Gottesbild zu vergleichen ist. Ich erwähnte es schon, eine allumfassende Energie umschließt, beschützt alle anderen Dimensionen, wie die dunkle Haut der Zwiebel.«

Ein Flackern, ein aufbäumendes Licht, unterbricht meinen Satz. Ich blicke mich um und sehe, wie die Kerzen im Kerzenleuchter kurz davor standen, ihr Leben zu verlieren. Ein letztes heftiges Aufflackern zog meine Aufmerksamkeit endgültig in ihre Richtung. 

Eine Ablenkung, die mir irgendwie guttat. Ein völlig neuer Gedanke entstand in meinem Kopf.

»Siehst du das Ende der Kerzen Lutz? Diese leben auf ihrer Ebene, völlig selbstlos und sie werden in kurzer Zeit endgültig vergehen und für immer vergessen sein.«

Ich konnte dieses Bild nicht unterdrücken und plauderte es heraus. Lutz ergriff die Gelegenheit, noch tiefer zu gehen.

»Vergessen«, Nachdenklichkeit ist aus diesem Wort zu spüren, »hat das Wissen über die sieben Schichten des Universums etwas mit unserem Leben zu tun oder werden wir es bald wieder vergessen? Ich denke schon, denn soweit ich weiß, unterliegt alles der Vergänglichkeit.«

»Oh, wie recht du hast. Allerdings ist dies bedauerlich. Wissen, welches wir besitzen, hilft uns in der Regel, unseren Standpunkt in der Welt zu erkennen. Deshalb müssen wir uns immer und immer wieder bemühen es zu erhalten. Wenn wir wissen, wer was wieso und warum, werden wir ruhiger, gelassener. Nichts kann und wird …«

Die Worte von Lutz wurden schwächer. Ich konnte sie kaum noch wahrnehmen. 

Ich spürte, wie eine fremde Macht in mir zu arbeiten begann.

Ich spürte ein Loslassen. 

Ich spürte, es wurde Zeit.

Ich spürte, einen Sog.

Ich spürte und verwehte.

 


 

 

 

 

 

 

 


 

                                                                                              Wenn wir glauben zu sein, 

                                                                                                                           sind wir.

                                                                                                                           Wenn wir sind, 

                                                                                                                           glauben wir zu sein.

 

19

 

Abschied nehmen

 

 

I

nzwischen ist mir diese Welt, vielleicht sollte ich besser sagen, mein Aufenthaltsort unendlich vertraut. 

Unendlich, ein bisher unfassbares Wort. Doch seit meinem Aufenthalt in diesem Teil des Universums hat dieses Wort eine andere, eine fassbare Größe. Bei dem Gedanken an die Unendlichkeit musste ich lächeln.

Meine Reisen durch Raum und Zeit haben mich bewusst werden lassen, Zeit ist keine feste Konstante und der Raum ist gewaltiger als ich erfassen kann. 

In diesem Aspekt oder in dieser Möglichkeit einer Welt, in dem ich mich zur "Zeit" aufhielt, sind einige kosmische Gesetze, von denen ich glaubte, sie wären unveränderlich, auf den Kopf gestellt. 

Zeit!

Ich reiste rückwärts, vorwärts in der Zeit, scheinbar nach belieben.

Raum!

Im Raum bewegte ich mich nicht dreidimensional, sondern, dies ist meine Erklärung, mindestens fünfdimensional.

Alles ist auf den Kopf gestellt.

Doch ich habe im Verlauf meines Hierseins, meine Situation anerkannt. Mittlerweile empfinde ich diesen Zustand sogar als Bereicherung meines Lebens. 

Mich der Endlichkeit hingebend, durchforsche ich den Raum und stelle ich fest, meine Reise durch Raum und Zeit hat mich an einen Ort geführt, an dem ich mich seltsam wohlfühle.

Was werde ich jetzt erfahren?

Neugierig lasse ich zu. 

Verwunderung ist das Gefühl welches mich durchflutet. Etwas fehlt. Ich dachte bisher, dies ist nicht möglich. Doch nun das. Ich kann keinen Hass, nichts Böses, keinen Neid und keine Aggression wahrnehmen. Hier herrschen nur solche Schwingungen vor, denen ich mich gerne hingebe. 

Ruhe, Frieden, Atempause, Einkehr, Besinnlichkeit, Meditation, Ausgeglichenheit, Gleichmut, Balance, Ausgeglichenheit, Nachdenklichkeit, Betrachtung, versunkenes Anschauen. 

Suche nach Wahrheit, Tiefe und Sinn. 

Schon oft fühlte mich herumgeschubst. Kam mir so vor als wäre ich ein Spielball. Häufig verstand ich nicht, weshalb ich dies alles aushalten musste. Oft ergaben sich nur neue Fragen und mir fehlte das Vertrauen, der Glaube, dass alles erlebte irgendwo hinführte.

Wohin sollte mich all der Schmerz, das Leid hinführen? 

Oft wäre ich lieber woanders gewesen.

Nur manchmal, ich kann es nicht leugnen, wäre ich gerne länger geblieben.

So wie jetzt. 

Je mehr ich mich einlasse, umso mehr fühle ich ein ankommen. Eine Ahnung sagt mir, gleich bist du Zuhause. 

Schließlich bekomme ich Klarheit und weiß, wohin die Reise geht. Ohne Weiteres zögern gebe ich meiner unendlichen Seele einen sanften Stoß und anstrengungslos werde ich Eins mit Werner.

Kaum nehme ich den Raum in mir auf, kommen schon wieder so nerv tötende Fragen. 

Will ich genau jetzt, in diesem Augenblick hier sein?

Wäre ich nicht lieber noch ein wenig Teil der Welt von Wilhelm?

Hat er mir etwas mitgegeben?

Habe ich losgelassen?

Ich weiß nutzlose Gedanken, doch ich kann nichts dagegen tun.

Ich schüttle den Kopf, über den ich verfüge, und will die Gedanken abschütteln. Wie selbstverständlich und mittlerweile oft geübt übernehme ich die Kontrolle über mein Alterego.

Ich fühle mich wirklich wohl und sehe mich um. 

Mein Gegenüber erkenne ich sofort. 

Es ist Lutz. 

Ihn zu sehen gibt mir sofort ein gutes Gefühl.

Mir wird bewusst, wie nahe wir uns standen, in meiner damaligen Inkarnation. 

Wie viel haben wir doch zusammen erlebt. 

Deshalb wundert es mich schon ein wenig, weshalb wir uns jedes Mal in diesem nicht sehr spektakulären Zimmer treffen. 

Vielleicht hat es damit zu tun, dass wir unsere besten Momente in Zeiten der Ruhe und der Nachdenklichkeit haben.

Wenn ich auf meine letzten Begegnungen zurückblicke, die ich auf diese Weise erlebt habe, vermute ich, hier war ein wichtiger Ort für mein eigentliches Erwachen.

In den Diskussionen mit ihm lernte ich viel. 

Das Austauschen von Gedanken und Erfahrungen in dieser teilweise sehr hohen Qualität konnte mir auch jetzt wieder helfen.

Mein jetziger Aufenthaltsort war sehr komplex. Je länger ich mich hier aufhielt und je mehr Informationen auf mich einstürmen erlange, umso nötiger brauche ich eine vertraute Person. 

Lutz hilft mir, wenn es mir auch nicht immer gleich deutlich ist, das All-Sein besser zu verstehen. 

Auch diesmal wird es so sein, da bin ich mir sicher.

Erwartungsvoll konzentriere ich mich auf Lutz.

Ohne mich wirklich zu überraschen, beginnt mein Freund, der mir völlig entspannt gegenübersaß, eine seiner kryptischen Fragen zu stellen.

»Ist es dir eigentlich auch aufgefallen?«

Was sollte mir aufgefallen sein?

Für einen kurzen Moment vergesse ich, dass die Frage ja nicht direkt an mich, als Thomas, gerichtet ist. Der Haltung von Lutz entnehme ich, dass die Frage auch nicht direkt Werner gilt, sondern eher an ihn selbst gerichtet ist. 

Ich vermute, vielleicht weil mir die bessere Alternative fehlt, dass die Frage die Tendenz hat, eine Rhetorische zu sein, mit der er eine neue Gedankenkette einleiten will. Da ich mir bewusst bin, einiges von dem Gespräch verpasst zu haben, entspanne ich mich erst einmal im Körper von Werner und warte ab. 

Ich erkenne wie Werner sein Gegenüber interessiert und aufmerksam betrachtet. Zu meiner Überraschung bleibt die Frage im Raum stehen. Lutz schweigt.

Habe ich mich getäuscht?

Erwartet Lutz doch eine Antwort?

Ich will Geduld üben.

Ist mein Eindringen daran schuld, dass Werner zögert?

Endlich scheint das Bewusstsein, dessen Gast ich bin, wieder mit sich im Reinen zu sein und reagiert.

»Was sollte mir aufgefallen sein? Und wo?«

Ohne direkt auf die Fragen einzugehen, präsentiert Lutz, wie erwartet, sein Anliegen.

»Heute Morgen habe ich mir, ohne genau sagen zu können warum, mal die Zettel angesehen, die du gestern beschrieben und liegen gelassen hast. Dabei ist mir etwas aufgefallen. Auf zwei Blättern stehen fünf Namen. Während ich über die Bedeutung, ihre Konstellation, nachdachte, kamen mir die fünf Säulen des Islams in den Sinn.«

Lutz lässt seine Worte wirken und ich kann spüren, wie Werner plötzlich bereit ist, sich einzulassen. Sein Interesse scheint geweckt. Doch mir fällt es noch schwer mich zurechtzufinden. Auch Werner (ich?) scheint es nicht anders zu ergehen.

»Tut mir leid. Wieso du durch diese fünf Worte auf den Islam kommst, entzieht sich meiner Erkenntnisfähigkeit.«

»Sagen dir die fünf Säulen des Islams nichts?«

»Nicht wirklich!«

Lutz scheint überrascht und er greift, wie so oft in solchen Situationen nach seiner Pfeife, die er aufmerksam inspiziert. Offensichtlich findet er was er sucht, legt sie wieder zur Seite und beginnt seine Gedanken darzulegen. 

»Nun diese Säulen sind einmal das Glaubensbekenntnis Schahada, dann das Gebet Salăt, außerdem die Almosensteuer Zakăt, weiter das Fasten Saum und schlussendlich die Pilgerfahrt Hadsch.«

»Wirklich interessant, doch ich verstehe noch immer nicht, was das mit den Namen auf den Zetteln zu tun hat.«

»Na ja ich könnte mir vorstellen, dass deine Überlegungen tiefer greifen, als oberflächlich zu erkennen ist. Du kommst wie«, Lutz lachte leise auf, »zufällig auf die Zahl fünf. In dem Zusammenhang drängte sich mir die Frage auf, warum? Da ich mich erinnerte, dass das Gefüge der Welt im islamischen Glauben auf fünf Säulen steht, wurde ich nachdenklich. Könnte das nicht so etwas wie eine Allegorie sein?«

Auch wenn ich noch nicht weiß, wohin die Reise mich führen wird, bin ich bereit mich auf dieses Gleichnis, welches mir sehr, sehr weit hergeholt erscheint, einzulassen. Selten wissen wir ja, was uns am Ende eines philosophischen Gesprächs erwartet.

»Du meinst, wir könnten jede der Fünf Säulen als Sinnbild für Gott, Teufel, Mensch, Seele und Geist betrachten?«, ich kann eine gewisse Skepsis nicht unterdrücken, »und gehe ich recht in der Annahme, dass du mir weiterhin sagen willst, dass auf diesen fünf Säulen das Schicksal, das Chaos und der Kosmos getragen werden? Finde ich doch sehr spekulativ.«

»Wäre doch möglich!«

Das Lächeln meines Freundes hat etwas Belustigendes. Obzwar ansteckend, gehe ich nicht darauf ein.

»Ich vermute, bin sicher, dass der Islam eine andere Vorstellung über das Weltengebäude hat, als zum Beispiel ich. Doch vergessen wir dies mal kurz. Mir kommt da ein anderer Gedanke. Könnte es nicht umgekehrt sein? Chaos, Kosmos und Schicksal sind die eigentlichen Säulen und diese Drei tragen die fünf Kräfte. Die Kräfte, die das Universum im Wettstreit mit- und gegeneinander geschaffen haben.«

Lutz sieht mich lange und nachdenklich an, bevor er erwidert.

»Schön zu erkennen, dass du bereit bist, dich einzulassen. Natürlich ist alles Nachdenkens wert. Du weißt, meine Meinung ist und war, was möglich ist, sollte gedacht werden. Ich behaupte, alles was wir uns vorstellen können, kann werden. Doch bleiben wir vorerst bei dieser Idee. Später können wir auch andere Religionen auf die Zahl Fünf abfragen? Es wäre interessant zu wissen, ob es in diesen irgendwelche Parallelen gibt.« 

Lutz unterbricht sich und ich nutze die Möglichkeit einige Fragen, die sich mir aufdrängen loszuwerden. 

»Sind eigentlich alle Säulen gleich groß? Haben sie alle das gleiche Gewicht, ich meine die gleiche Wirkung im Gefüge des Kosmos? Haben sie gleiche oder verschiedene Qualitäten? Oder ist jede Säule eine eigene Wirklichkeit? Ist deshalb ein solch immenses Ungleichgewicht in und auf der Welt? Können wir deshalb die Wahrheit so schwer erkennen?«

»Siehst du, auf eine unerwartete Art gibst du mir recht. Dieser von dir hingekritzelte unscheinbare Zettel wirft einige, wenn nicht viele philosophische Fragen auf. Diese Zettel könnten der Anfang eines neuen Weltgebäudes sein.« 

Meine Fragen tun meinem Freund offensichtlich gut. Ich spüre, Lutz fühlt sich angenommen. Die Frage, ob und wie wir gemeinsam an einem neuen Weltbild arbeiten können, verbindet uns. 

Während ich versuche mich zu erinnern, wie dieses Modell so urplötzlich das Licht der Welt erblickt hat, wartet Lutz ab.

Er lässt mir Zeit. 

Wir beide sind uns bewusst, dass diese Sicht auf die Welt, ungewöhnlich ist. Ich erforsche in verborgenen Regionen meines Bewusstseins, wie wohl diese Idee herangewachsen ist. 

Ich finde nichts. 

Nur an soviel glaube ich mich zu erinnern. Die Idee erblickte als unreifes Kind, auf wenigen Zetteln geboren, das Licht der Welt. Absichtslos hatte sich die Idee damals, aus unbekannten Quellen, ans Licht gedrängt. 

Und nun dies. 

Es überrascht mich schon ein wenig, dass Lutz, ohne zu fragen, einfach so, die Patenschaft für dieses Kind übernommen hat. Der Gedanke lässt eine andere Idee in mir reifen. Wenn wir zusammenarbeiten, könnte dieses Kind zu etwas prächtigem unerwartetem heranwachsen. Vielleicht würden wir während der Pflege sogar auf Zusammenhänge stoßen, die so, bisher noch nicht gedacht waren.

Während ich meine Gedanken fließen lasse, sieht Lutz mich aufmerksam an und erweckt den Eindruck, als fordert er mich auf, es zusammen zu pflegen. 

Ich halte seinem Blick stand, und überlege, dass wir zusammen Grenzen überwinden konnten. Grenzen, die Generationen von Philosophen vor uns aufgebaut hatten, um anschließend wieder niedergerissen zu werden, um schlussendlich doch wieder aufgebaut zu werden.

Da wir noch keine Wahrheit über die Welt kennen, die allen Fragen standhält, darf ich annehmen, vieles ist nicht zu Ende gedacht. In der philosophischen Welt gibt es einige gemauerte Gedankengebäude, die von mehreren Generationen akzeptiert wurden, um dann doch zu erfahren, diese Wahrheiten führen ins Nirgendwo. 

Da mir dies bewusst ist, geht es mir gut und ich fühle mich nicht als Zerstörer vergangener Vorstellungen. Jede Generation, die auf sich hält, hat eigene Ideen über die Zusammenhänge der Welt. 

Was mich tatsächlich bewegt, ist das Gefühl ein Erneuerer zu sein. Ich weiß, ich bewege mich auf unbekanntem Terrain, welches darauf wartet, dass ich mich verirre. Doch dies beeindruckt mich nicht. Ich bin bereit neue Grenzen zu finden, um sie gegebenenfalls zu überschreiten.

Ich bemerke, wie Lutz allmählich unruhig wird. Es wird Zeit ihn in meine Gedanken einzubinden. Doch zuerst wollte ich etwas anderes klären.

»Entschuldige, versteh mich richtig, ich wollte und will weder irgendeine Religion infrage stellen noch eine neue initiieren. Doch was ich möchte, ist eine neue Philosophie. Ich denke, dies dürfte legitim sein.«

Lutz scheint überrascht. Sein Gesicht drückt etwas Verschmitztes aus und er beginnt leise zu lachen.

»Natürlich. Dies darf so sein. Nur noch einen Propheten kann die Welt nicht gebrauchen. Wie kommst du nur darauf, dass ich dies denke?«

»Kam mir halt gerade in den Sinn, dass ich dies erwähnen sollte.«

Sein Gesicht nimmt plötzlich einen nachdenklichen Zug an. 

»Philosophisch? Ja, so können wir es angehen. Eines lässt sich nicht von der Hand weisen, deine skizzierte, im Spirituellen angesiedelte Dimensionen- oder Ebenenwelt, könnte Wirkung auf die Vorstellungen der Welt haben.«

»Wir sind uns nahe, mein Freund«, entgegnete ich.

»Du befürchtest also nicht, wenn wir deine jetzt noch vagen Vorstellungen konkretisieren, noch nicht gedachte Antworten finden, und davon Notizen anzufertigen«, er griff nach den Zetteln, die er bereitgelegt hatte, »so wie diese, dass eines Tages jemand diese Notizen rein zufällig findet? Du befürchtest nicht, dass dieser dein gedachtes Weltbild aufgreift, und es als die Heil bringende Wahrheit verkündet? Dass er schließlich genügend Anhänger findet, denen er so lange predigt, dass dies die ultimative Heilslehre sei, bis sie glauben? Kannst du dir vorstellen, dass auf diese Weise weiteres Chaos in der Welt entsteht?«

Ich konnte ein lautes Lachen nicht unterdrücken und unterbrach meinen Freund.

»Prachtvoll illustriert.«

»Oh, es geht noch weiter. Du befürchtest also nicht, dass dieser jemand vielleicht noch weitergeht und dein philosophisches Weltbild zu einer weiteren Religion erhebt?« 

Lutz holt kurz Luft. Nachdem er sich ein wenig geerdet hat, spricht er weiter.

»Ich möchte in diesem Zusammenhang darauf hinweisen, dass viele Religionen von nur einem Menschen ausgelöst wurden und manche halten sich sehr, sehr lange und das, obwohl der eigentliche Ursprung schon lange verloren ging.«

So formuliert hätten wir jetzt zum Wein greifen und den Abend entspannt genießen müssen. Doch nach diesen Ausführungen war dies nun unmöglich. 

Ich lächle, um mich auf das Kommende vorzubereiten.

»Warum lächelst du?« 

Fühlt Lutz sich nicht angenommen?

Bevor ich etwas sagen kann, spricht er weiter. 

»Ich finde den Gedanken nicht abwegig. Alles, was es dazu braucht, ist eine weltumfassende Krise, ein selbst ernannter Messias und die Schwäche der Menschen.«

Wir sehen uns eine Zeit lang nachdenklich an. Nachdem Lutz schweigt, ergreife ich das Wort.

»Du hast recht. Doch finde ich es schwer vorstellbar, dass es noch einmal einen Messias geben sollte.«

»Soweit ich weiß, warten zum Beispiel die Juden auf einen solchen.«

»Du hast recht. In diesem Fall bleibt uns nur die Hoffnung, dass niemand von unseren Gedanken erfährt. Doch auch auf diese Gefahr hin sollten wir das Philosophieren nicht aufgeben.«

»Diesmal gebe ich dir recht.«

Lutz zaubert ein spitzbübisches Lächeln auf sein Gesicht.

»Lass uns in dieser kleinen Runde über die Kräfte die die Welt zusammenhält nachdenken. Ich bin neugierig, wohin unsere Gedanken uns führen. Gott und der Mensch. Der Mensch und der Teufel. Ursprung von Gut und Böse. Welchen Weg müssen wir gehen, um eine neue Evolutionsstufe zu erreichen?«

Lutz greift nach seinem Weinglas. Kurz hält er es gegen das Kerzenlicht und führt es an die Lippen. Angeregt durch ein feines Geräusch, welches entsteht, wenn der Wein über die Zunge fließt, folge ich seinem Beispiel. 

Einige Zeit sitzen wir still zusammen und verarbeiten das bisher gesagte. Eine der Kerzen knistert leise und ihre Flamme verlischt. Die Dunkelheit erobert ein Stück des Zimmers.

»Ich denke, Fragen nach dem Sinn des Lebens, dem Woher und dem Wohin, werden nie abschließend geklärt. Ich bin überzeugt, diese Fragen werden die Menschheit begleiten, bis sie untergeht. Trotzdem ist jeder Aspekt wichtig. Solange wir leben, ist alles möglich. Wie bei einem Puzzle müssen die richtigen Stücke gefunden und eingefügt werden. Erst nachdem das letzte Teil eingefügt ist, blicken wir auf ein Bild. Wir beide werden allerdings bis dahin vergangen sein. Nachfolgende Generationen werden über diese Fragen diskutieren. Sie werden vielleicht dort weiter aufbauen, wo wir mangels Informationen verstummt sind. Bisher ist eines klar«, er lächelt versöhnlich, »es wird dauern, bis Fragen dieser Qualität zufriedenstellend geklärt werden. Und so wird es immer wieder Menschen geben, die solange sie leben, über Fragen philosophieren, die die Welt bewegen.« 

Lutz stellt sein Weinglas, welches er in der Hand gehalten hat, auf den Tisch zurück. Nachdenklich schaut er auf einen imaginären Punkt und schweigt.

>Genau darum dreht sich die Welt, wir wollen Antworten<, kommt mir in den Sinn.

»Also lass uns die Fragen klären, die durch meine Notizen entstanden sind.«

»Ich bin dabei, Werner.«

Gerade als ich etwas erwidern will, wird meine Umgebung transparent.

>Nicht, jetzt!«

Obwohl ich weiß es ist sinnlos, möchte ich Lutz ein Zeichen senden, möchte bleiben.

Vergebens.

Ich fühle einen Sog. Übergangslos bin ich wieder im Nichts.

Gerne würde ich mitbestimmen nehmen, was mit mir geschieht. Doch wieder einmal liegt die Entscheidung nicht bei mir.

 


 

                                                                    Wenn mein Handeln nicht schneller,

                                                                                                         als mein Denken gewesen wäre,

                                                                                                         hätte ich manchen Fehler vermieden.

 

21

 

Liebe trägt in alle Ewigkeit

 

 

E

in Mann sitzt, wie so oft in letzter Zeit, vor bodentiefen Fenstern, die einen kleinen Erker bilden. 

Der Raum ist durchdrungen von einer schwermütigen, düsteren Grundschwingung. Musik von Wagner, Tannhäuser, durchdringt leise das Zwielicht und verstärkt das Gefühl von Trauer. 

Nach vorne gebeugt sieht er aus dem sechsten Stock hinunter auf die Straße. Pulsierendes Leben, reges Treiben, auf der von diversen Lichtquellen erleuchteten Straße, breitet sich dort unten aus. Bis die Bilder allerdings seinen Verstand erreichen, haben sie jede Kraft verloren. Ohne sichtbare Regung starrt er auf das Geschehen und lässt es durch sich hindurchfließen.

Zusammengesunken, in einem barocken hochlehnigen Sitzmöbel, lässt er sich von düsteren Gedanken treiben. Tief in seinem Unterbewusstsein verblassen langsam die Bilder aus glücklicheren Tagen. Bilder, die davon erzählen, wie er sich dieses einzigartige Möbelstück, auf dem er nun kraftlos saß, angeschafft hatte. 

Erinnerungen an gesellige Abende. 

An einem solchen Abend hat ihm einmal ein Freund erzählt, dass einstmals Könige bei ausgelassenen Festen, von diesem Stuhl aus Menschen dirigierten. 

Kaum erinnerte er sich an die Stunden, als er erwartungsvoll dem sublimen Gefühl von Kraft und Macht nachspürte, welche diesem Stuhl innewohnte. Jedes Mal, wenn er damals, nach einer längeren Sitzung aufstand, fühlte er sich erfrischt und voller Tatendrang. Die Erinnerung daran gibt seiner Trauer noch mehr Nahrung. 

Inzwischen spürte er sehr deutlich, dass die dem Stuhl innewohnende Energie sich verwandelt hatte. Die kraftspendende, positive Energie hatte sich im Laufe der vergangenen Wochen aufgelöst und war nun Teil einer dunklen Macht. 

Früher, wenn er auf dem Stuhl saß, verfolgte er mit Interesse, manchmal belustigt, das Treiben auf der Straße. In den glücklichen Tagen schaute er in klaren Nächten hinauf zum Mond und betrachtete die silberne Scheibe. Seine Gedanken verloren sich dann im Mare Serenitatis, dem Meer der Ruhe. Oft fragte er sich in diesen Stunden, welche Geheimnisse wohl in den Weiten des Universums verborgen sind. Dies war die Zeit, in der er glaubte, alles sei möglich. 

Dieser Glaube war nun verschwunden.

Parallel zu diesem Verlust, verlor der Stuhl immer mehr seiner positiven Kraft und, wie zum Ausgleich, manifestierte sich Verlorenheit und Dunkelheit im alten Holz. Jedes positive Quäntchen Kraft haben seine negativen Gedanken inzwischen aus dem viktorianischen Stuhl verdrängt. 

Trotzdem oder gerade deswegen zog es ihn jeden Abend, wenn es dunkel wurde, in diesen Stuhl, der beim Einzug spontan diesen Platz erhalten hatte. Hier begann der Kampf gegen seine inneren Dämonen. Obwohl er bisher noch jede Nacht diese Auseinandersetzung verlor, blieb doch ein Quäntchen Hoffnung zurück. In seiner Vorstellungswelt war ein Kampf niemals vorbei. 

Auch Tannhäuser hatte am Ende gesiegt. 

Die Musik gab ihm Trost. Es war seltsam, wenn die Musik verklang, fühlte er sich befreit. Sie war sein treuer Begleiter in der Finsternis, die ihn seit Wochen umgab. Sie führte ihn für kurze Momente aus der Dunkelheit heraus und immer wieder zu diesem Stuhl. 

Auch heute bewegte ihn wieder die Frage, wie lange er noch in diesen Krieg verwickelt sein würde, wie viel Schmerz er noch aushalten musste. Er wusste es nicht, doch entgegen aller Tristes war er nicht bereit, den Feldzug um ein besseres Leben aufzugeben. Wenn es besonders dunkel um ihn herum wird, taucht eine Stimme auf, die zu ihm sagt, du musst gegen die Geister der Vergangenheit bestehen. Die Stimme erinnert ihn.

Plötzlich erstarrt der Mann im Stuhl.

Im Zweikampf zwischen Mondlicht und Leuchtreklame taucht unerwartet ein Gesicht aus der Dunkelheit auf. Jede Faser in ihm schreit auf. Doch sein Körper rührt sich nicht. Neugierig bewegt er schließlich seinen Kopf näher an die Scheibe und der Geist tut es auch. 

Versucht das Gesicht da draußen, mit Gewalt durch die Fensterscheibe einzudringen? 

Das Gesicht kommt ihm bekannt vor.

Eine Erinnerung blitzt kurz auf. 

Das Gesicht ist blass, fast weiß. Weiße Strähnen durchziehen das schulterlange schwarze Haar, welches völlig, außer Kontrolle ist. Tiefe Falten, die sich als dunkle Linien von der bleichen Haut abheben, sind für immer in das Gesicht eingegraben. Die Augen, schwarz wie das Haar, in denen sich die Lichter der Straße mystisch abbilden, starren in eine unbestimmte Ferne und erzählen vom Sterben und Tod. Gleichgültigkeit ist in ihnen zu erkennen und ein Schimmer von Verlust und Verlorenheit. 

Erschrocken richtet er sich kerzengerade auf. 

Mit einer Hand stößt er abwehrend gegen das Fenster. Dieses öffnet sich ein wenig und das Gesicht verschwindet. So unerwartet, wie es aufgetaucht ist. 

Es dauert, bis die Wirklichkeit in sein Bewusstsein sickert. Der Physiognomie, mit dem er sich so urplötzlich konfrontiert sah, war sein eigenes. Es war sein Gesicht, welches sich im Fensterglas widergespiegelt hat. 

Angewidert wendet er sich ab.

Sein Blick fällt auf die Wanduhr und er stellt fest, es ist spät. 

Er schaut hinauf zum Nachthimmel, als benötigt er eine weitere Bestätigung und am Stand des Mondes erkennt er, die Nacht hat ihren Höhepunkt längst überschritten. 

Kaum wird ihm dies bewusst, spürt er die Kraft des Schlafes in sich wirken. Doch genau wie die Menschen auf der neon- und reklamebeleuchteten Straße, will er nicht schlafen. Er fürchtet die Träume, die ihn erwarteten und denen er nur entfliehen kann, solange er wach bleibt. Eine tiefe Wunde, die wohl niemals mehr heilen wird, dies hat der Mann inzwischen als gegeben hingenommen, lässt nicht zu, dass er jemals wieder ruhig und traumlos schlafen wird.

Ein gleichmäßiges Stakkato, erzeugt von hochhackigen Pumps, dringt an sein Ohr. Das Klacken, welches durch die Begegnung von Metall und Asphalt entsteht, erinnert ihn an längst vergangene Tage. 

Die abgehakten Töne erwecken sein Interesse. 

Der hagere Mann beugt sich nach vorne, wobei er ans Fenster stößt, wodurch er es ein weiteres Stück öffnet. Das Mondlicht erfasst ihn. Deutlich ist zu sehen, dass er ganz in Schwarz gekleidet ist.

(Sag mir, wie du dich kleidest und ich sage dir, wie du dich fühlst.) 

Aufmerksam die Straße absuchend, versucht er die Quelle der Takte, die ihn so unaufgefordert aus seiner Hoffnungslosigkeit gerissen haben, zu lokalisieren. 

Seine Körperhaltung verändert sich schlagartig, als er glaubt, den Ursprung einer altvertrauten Melodie entdeckt zu haben. 

Ein Zittern geht durch den Mann und es ist zu spüren, wie er versucht, Teil der Wirklichkeit zu werden. 

Der Kokon, der ihn bisher fest eingehüllt hat, wird durchlässig. Das Geflecht aus negativer Energie und dunklen Gedanken gibt ihn nicht endgültig frei, doch er kann etwas leichter durchatmen. 

Kaum hat der die Frau lokalisiert bleibt diese stehen.

Was geschieht da unten, fragt er sich.

Egal, wichtiger ist für ihn die Frage, wer ist sie? 

Die Frau schaut sich um, so als erwarte sie jemanden. 

Aufmerksam betrachtet er ihren schlanken, nur mir einem dünnen Kleid verhüllten Körper von oben bis zu den Stöckelschuhen. Sie kommt ihm nervös vor. Er überlegt, ob sie Hilfe braucht. 

Ein vor Ewigkeiten verschüttetes Gefühl durchdringt die Oberfläche seines Seins.

Sehnsucht! 

Seine dunklen Seelenfenster bekommen einen fiebrigen Glanz. Deutlich ist hinter der sich weiter auflösenden Hülle zu erkennen, die er auch in dieser Nacht unter mithilfe seiner negativen Gedanken gesponnen hat, wie sich sein Lebenswille regt. Sein schmaler Körper beugt sich weit nach vorne, berührt fast das schmiedeeiserne Geländer des französischen Balkons. 

Wie eine Welle überschwemmen ihn die unterschiedlichsten Gefühle, als er die Frau in ihrer Ganzheit in sich aufnimmt. 

Es fällt ihm schwer zu glauben, was er sieht.

Sie ist ein Wunder.

Ein Licht in der Dunkelheit.

Heftiges Durchatmen verdrängt die leise Musik in den Hintergrund. Ein unerwartetes Erkennen hellt die düstere Aura des Mannes fast schlagartig auf.

Er glaubt, er weiß, er schwankt.

Sie ist es und doch ist sie es nicht.

Er weiß es kann nicht sein und doch ist sein Wunsch größer als seine Vernunft. Er muss ihr näherkommen.

Doch wie? 

Gleichmäßig atmet er aus und ein, versucht sich zu beruhigen. Er erinnert sich seiner Seele. Ein langes vermisstes Gefühl von Freiheit lässt ihn seine Seele freigeben und diese ergreift die Gelegenheit sofort. Sie entschlüpft durch das nicht mehr so engmaschige Energienetz. Mit einem festen Ziel im Gepäck schickt er seine Seele auf den Weg. 

Wird er so, der Frau, die ihm so unglaublich vertraut ist, näherkommen? 

Am liebsten würde er mithilfe seiner Seele Eins mit ihr werden.

Jetzt!

Sofort!

Doch ist dies möglich? 

Vielleicht!

Während sich seine Sehnsucht nach Kontakt mit ihr, ins Unendliche verstärkt, spürt er, wie sein Körper der Seele folgen will. 

Seine Ohren scheinen sich tatsächlich von ihrem angestammten Platz zu lösen. Seine Nase tat es den Ohren gleich und schließlich begeben sich all seine Sinne auf den Weg. 

Auf wundersame Weise ist er ihr plötzlich unerwartet nahe, glaubt sie berühren zu können. Als er es versucht, senkt die Frau ihren Kopf und schüttelt ihr blondes, im Neonlicht glänzendes Haar. Es kommt ihm so vor, als wolle sie etwas abschütteln. 

Ihn?

Spürt sie seine Nähe?

Die Frau schaut sich um, scheint zu finden, was sie sucht. Selbstbewusst setzt sie ihren Weg fort. 

Nur für ihn erklingen die Töne, die ihre Stöckelschuhe dem Asphalt kraftvoll entlocken, erneut auf. Mit jedem Ton, der sich in seine Ohren schmeichelt, glaubt er noch fester, dass er sie kennt, dass sie einmal ein wichtiger Teil von ihm war.

Woher?

Was will sie?

Sendete sie ihm die lang erwartete Botschaft?

Ist sie das Licht, das seine Dunkelheit aufbrechen wird?

Er hat keine Vorstellung von der Zukunft und sie ist ihm für den Augenblick auch egal. Er konzentriert sich nur noch auf sie. Er gibt sich dem leicht erhöhten Rhythmus ihres Atems hin. Er nimmt das ihm vertraute Parfüm in sich auf. Er wird Teil ihres Fluidum.

Das Gefühl, das er in einer viel zu schnell vergangen Zeit, mit ihr eine Einheit gebildet hatte, bestürmt ihn regelrecht und er kann sich dem nicht entziehen.

Während er noch auf verschiedenen Gefühlsebenen nach Antworten sucht, bleibt die Eleganz ausstrahlende Frau abrupt stehen. Mit einer unübersehbaren Wachheit blickt sie sich um, so als suche sie nach etwas oder jemandem. 

Schließlich scheint sie gefunden zu haben, was sie sucht. Sie legt ihren Kopf in den Nacken und schaut zu ihm herauf. Unvorbereitet blickt er in ihm vertraute blaugrüne Augen. Ohne seine Einwilligung nehmen sie ihn gefangen. 

Erschrocken, so als hätte sie ihn bei etwas Verbotenem ertappt, zieht er seinen Kopf in die Dunkelheit zurück. 

Er ist verwirrt. 

Seine Welt zersplittert in Tausende Teile.

Für den Augenblick einer Ewigkeit entschwindet ihm seine vertraute Umgebung und er verliert Halt und Orientierung. 

Eigentlich müsste er diesen Zustand gewöhnt sein, doch in diesem Moment ist er bitter enttäuscht. Wie lange dieser Zustand andauert, kann er nicht sagen, doch das Bild vor seinen Augen zieht ihn schließlich, beinahe magisch, zurück ins Jetzt. Vorsichtig beugt er sich nach vorne, den Schutz der Nacht nicht verlassend und sucht das unter ihm liegende Trottoir nach seiner Traumfrau ab.

Er kann sie nicht finden.

Um sich von der aufkeimenden Verzweiflung abzulenken, konzentriert er sich auf das sonstige Geschehen auf der Straße. 

Seine Aufmerksamkeit bleibt an einer Gruppe ungepflegter Typen hängen. Er sieht, wie sie sich mit Bierflaschen in den Händen zuprosten. Sie erwecken den Eindruck als wollten sie damit ausdrücken ihnen gehöre die Welt oder wenigstens die Straße. 

Jäh wird er sich des verdorbenen Atems der Großstadt bewusst. Ein Atem, der oft und auch jetzt krakenhaft und vermodert durch das halb geöffnete Fenster zu ihm hereinkriecht. 

Ein gespensterhaftes Lächeln huscht über sein Gesicht. Oh, er kennt das Leben in all seinen lasterhaften Schattierungen, in all seinen bösen Ausprägungen. Das wirkliche Leben kann sich nicht mehr vor ihm verstecken, nichts bleibt vor ihm verborgen. Er hat in Abgründe geblickt und weiß nun sicher, das Leben ist abgrundtief schlecht. 

Eine zufällige, üble Laune des Universums.

Überraschend drängt sich ein rotes Auto, ein Sportwagen, wie er auf den zweiten Blick erkennt, in sein Bewusstsein. Er sieht, wie es nur wenige Meter von der Frau entfernt anhält. Die Fahrertür öffnet sich. Ein Hüne von Mann steigt aus, geht um das Auto herum, öffnet die Beifahrertüre und fordert mit einer bestimmenden Handbewegung, die Frau zum Einsteigen auf. Bevor sie seinem Wink folgt, schaut sie noch einmal nach oben. Er glaubt zu sehen, wie sie ihn anlächelt. 

Will sie sich von ihm verabschieden?

Seine Verwirrung vertieft sich. Die Schönheit des Lebens, so musste sie aussehen. Langem fühlte er sich wieder glücklich. Andächtig lauscht er dem flüchtigen Moment nach. 

Dann ist es vorbei.

Die Frau senkt den Kopf und stöckelt die wenigen Meter zum Fahrzeug. Viel zu schnell verschwindet die Traumgestalt im Auto. Verwundert spürt er eine heftige Welle.

Kehrt seine Seele zurück?

Keine Frage. 

Freudig begrüßt er sie. 

Alles, was sie mitbringt, nimmt er wahr und lässt es zu. Sein Bewusstsein füllt sich mit Hoffnung. Unvermittelt strafft sich sein Körper, sein Verstand. Er ist zwar durcheinander und nervös und doch ist er gleichzeitig auch hellwach. Er hört das Zuschlagen der Beifahrertüre und schlagartig wird ihm bewusst, dass er die Frau nie wieder sehen wird. 

Sie kann doch nicht so einfach wieder aus seinem Leben verschwinden?

Wie konnte er sie wiedersehen? 

Einige winzige Atemzüge lang hatte ihm das Schicksal etwas Wundervolles geschenkt, um ihm wenige Augenblicke später, das Mirakel wieder zu entreißen.

Verfluchtes Leben!

Es durfte nicht sein!

Doch was sollte er tun?

Er war Gefangener seiner Vergangenheit, die er nicht loslassen konnte und wollte. 

Während er über das schon so vertraute grausame Spiel des Lebens nachdenkt, hat der Entführer die Fahrertür erreicht, steigt ein und fährt mit aufheulendem Motor davon. 

Während er noch fassungslos, nicht begreifend was gerade geschehen ist, auf den leeren Fleck der Straße starrt, verstärken sich die Schwingungen im Zimmer. 

Sie werden differenzierter, doch gleichzeitig auch diffuser. Widerstreitende Kräfte schweben in der Luft, die durch das offene Fenster eingedrungen ist, im Raum und ist am Wirken. Neid, Argwohn, Eifersucht, Wut, Hass, Verlorenheit sind die Worte, die er den Kräften geben würde, würde er benennen wollen, was um ihn herum geschieht. 

Doch es interessiert ihn nicht. 

Wieder einmal gibt er sich auf. 

Apathisch sitzt er zusammengesunken Eins mit dem Fürstenstuhl und weint.

Sekunden werden zu Minuten. 

Schließlich kommt Bewegung in den Mann. 

Er rutscht, begleitet von einem Knarren, erzeugt durch altes, trockenes Leder, auf dem Stuhl weit nach vorne, um das Fenster zu schließen. Er drückt seine Stirn an das Erkerfenster und dessen Kühle lässt ihn endgültig zurückkehren, in seine desaströse Welt.

Wehmütig blickt er nach unten. Seine Augen verlieren sich erneut im Chaos der Straße. Während die sich ausbreitende Anarchie in sein Hirn dringt, durchwabert ein kalter Schauer seinen hageren Körper und er glaubt, den Pulsschlag der Stadt zu hören. 

Mit unstetigem Blick, in dem deutlich Verzweiflung zu erkennen ist, nimmt er die Menschen, die sich dem Treiben und irgendwelchen obskuren Geschäften hingeben, in sich auf. 

Seine Gesichtszüge verzerren sich zu einem diabolischen Lächeln. Oh, er kennt ihre Bedürfnisse nur zu genau, vor nicht allzu langer Zeit war auch er ein Teil von ihnen. Er weiß jeder will ein großes Stück vom machtvollen Leben, jeder will es mit jeder Faser seines Seins in sich aufsaugen.

Ohne Gedanken an das Morgen oder Übermorgen.

Noch vor nicht allzu langer Zeit ritten er und die Menschen, zu denen er eine abgrundtiefe Distanz empfindet, dieselbe Welle.

Wie konnte dies geschehen? 

Er hatte das Leben geliebt.

Sein unbeschwertes, vielfältiges Leben. 

Sein Leben mit ihr.

Und dann mit einem Schlag war alles vorbei.

Nichts mehr hatte bestand.

Ein klagendes Seufzen durchhuscht den hohen Raum, umkreist den Stuhl, vermischt sich mit einigen Tönen aus Tannhäuser und verflüchtigt sich schließlich in der Bücherwand.

Er greift hinunter auf den Boden und eine Flasche, zur Hälfte mit gelber Flüssigkeit gefüllt, taucht aus der Dunkelheit auf. Mit einer fahrigen Bewegung setzt er die bauchige Flasche an die Lippen und trinkt einen kräftigen Schluck. 

Er setzt sie ab und ein Laut der Zufriedenheit verlässt seinen Mund. Mit einer ungelenken Bewegung streckt er die Flasche in Richtung Nacht. Prostet der ungeliebten Welt zu. 

Dieser Vorgang wiederholt sich, bis die Flasche endgültig geleert ist. Sein müde gewordener Arm sinkt nach unten. Widerwillig lässt er die Flasche los. Begleitet von einem dumpfen Ton findet die Flasche Platz neben dem Stuhlbein. 

Der Alkohol greift nach seinem Gehirn, breitet sich in ihm aus. Sein Blick trübt sich. 

Mit einem Tunnelblick schaut der Mann nach draußen. Auf das Gewusel unterschiedlichster Menschen. Sie alle streben dem süßen Leben entgegen, einem Leben ohne Reue, ohne Reflexion und ohne Nachdenken. 

Er erinnert sich gut. 

Er weiß, erst in der Nacht entfaltet das Leben seine wahre Blüte. Doch für ihn hat dies alles seinen Reiz verloren. Er fühlt sich nur noch müde. 

Weshalb er sich heute so intensiv auf das Leben eingelassen hat, verschwindet hinter einer Nebelwand. Die Bilder, die gerade noch so präsent waren verblassen, werden vom Alkohol stückweise hinweggespült.

Die bisherigen Nächte, seit seinem Verlust, hatte er dazu genutzt, sich seiner Trauer und einer Flasche Whisky hinzugeben.

Heute war es irgendwie anders gewesen. Dunkel erinnert er sich an eine Frau, an eine Erscheinung. 

War sie ein Menetekel?

Stand er am Abgrund und musste sich entscheiden?

Vielleicht!?

Seine Augen werden feucht. Entfremdung zieht sein Herz zusammen. Tränen tauchen auf, verfangen sich in den unergründlichen Tiefen seiner Gesichtsfalten. All dies dringt nicht wirklich in sein Bewusstsein. Er scheint von seinem eigenen Tun nichts zu bemerken. Bewegungslos verharrt er, starrt vor sich hin. 

Trostlosigkeit, Verlorenheit zeichnet seine Haltung in die Finsternis. Kurz bevor er sich völlig in der Düsternis verliert, regt sich seine noch verbliebene positive Seite und versucht ihn zu erinnern.

Das Bild einer wunderschönen Frau taucht in seinem umnebelten Gedächtnis auf. Bilder von besseren, glücklicheren Zeiten gesellen sich dazu. Übergangslos tauchen Szenen in seinem Inneren auf, in denen seine geliebte Frau die Hauptrolle spielt.

Ein Zittern durchläuft den Körper des Mannes. 

Hoffnungsvoll lässt er sich ein und die Bilderflut zu. Eine Schleuse öffnet sich. Der Tränenfluss versickert und sein Gesichtsausdruck verändert sich. Der Mann hebt in Zeitlupe den Kopf und seine Augen blicken ins unendliche, selbstlose Universum. Ein Lächeln schleicht sich auf sein Gesicht.

Doch genauso überraschend, wie die Bilder aufgetaucht sind, verschwinden sie auch wieder. 

Verzweiflung erfasst ihn. 

Seine Augen weiten sich, versuchen mehr zu sehen, schauen angestrengt in die Ferne, ins Unmögliche, ins Unergründliche. Er gibt sich Mühe nicht zu verlieren, was sich ihm anbietet. 

Das Licht der Sterne zaubert ein seltsames Funkeln, Erneuerung ankündigend, in seine Augen. 

Er schließt seine Augen und lange verschlossene Tore öffnen sich. Sie geben den Blick in eine andere Welt frei. 

Geister des Vergangenen nützen den Augenblick. 

Der Mann schließt die Augen.

Glaubt er, so könne er sein Schicksal abwenden?

Hofft er so sich von den Geistern, die ihn immer heftiger bedrängen, befreien zu können?

Die Antwort ist Nein. 

Niemand kann seinem Schicksal entfliehen.

Aus den Tiefen seines Bewusstseins tauchen nebulös Erinnerungen auf. Die Erinnerungen öffnet ein Loch in seinem kleinen Universum. Er verliert den Halt und stürzt. In bodenlose Trauer. Tiefer und Tiefer. Während er fällt, beginnen seine Hände zu zittern. Stimmen flüstern in ihm. Sie reden von Wahrheit, von Verlust und Loslassen. In einem hilflosen Versuch die Stimmen abzuwehren, drückt er seine Hände an die Ohren.

Wolken, die ostwärts ziehen, geben den Mond frei. Das bleiche, aschgraue Licht, dessen Quelle die Mondscheibe ist, befreit den Mann aus der Dunkelheit. Sein Anblick zeichnet das Bild einer Tragödie. Kraftlos, antriebslos sitzt der Mann im fahlen Licht des Mondes. Auf dem Dach gegenüber fängt ein mannshoher Buchstabe, der dort installierten Neonreklame, an zu blinken. Auf geheimnisvollen Pfaden sendet sie eine Botschaft ins Unterbewusstsein des Mannes und beginnt zu wirken. 

Unruhe erfasst den Mann. 

Auf seine Umgebung wirkt er zerrissen, als hätte ihn etwas gespalten. So als hätten ihn entweder alle guten Geister verlassen oder sie würden ihn von allen Seiten bestürmen. Deutlich ist zu erkennen, wie der Mann auch die letzten Reste einer Gegenwehr aufgibt. Dieser Zustand öffnet die Tore noch weiter für die guten, sowie die bösen Geister, die unser Leben begleiten.

Eine verspätete Wolke schiebt sich vor den Mond. 

Das Zimmer wird schleppend dunkler. Schließlich verschlingt den Mann die Dunkelheit. Das Licht der Neonreklame nimmt an Kraft zu. Die Szenerie wird gespenstisch. 

Für einen Moment scheint alles möglich.

Wie werden die Würfel fallen?

Licht und Dunkelheit, diese gegensätzlichen Kräfte verharren abwarten im Zwielicht. Bis ein unmerkliches Signal den Kampf zwischen Dunkelheit und Licht beginnen lässt. 

Die stumme Auseinandersetzung schreckt den Mann aus seiner Lethargie auf. Der blinkende Buchstabe im Neonschriftzug erregt seine Aufmerksamkeit. Das aus und an erinnert ihn entfernt an eine Warnblinkleuchte. Das Licht der restlichen Neonwerbung fällt als schmaler Streifen in sein Wohnzimmer. Die unterschiedlichen Reize lassen ihn aus seinem tief verwurzelten Desinteresse der Welt gegenüber aufwachen. 

Er beobachtet, wie das Licht den Boden entlang kriecht, sich die Wände hochtastet und dann unschlüssig verharrt. Es bewegt sich vor und zurück, zurück und vor. Bis es sich in Höhe der Augen des Mannes einpendelt und diese der Dunkelheit entreißt. Geblendet schließt der Mann die Augen. Als hätte das Licht das angestrebte Ziel erreicht und die Dunkelheit besiegt, verharrt es. Deutlich ist zu erkennen, welche Wege die Tränen des Mannes, die inzwischen getrocknet sind, gegangen sind. 

Innerlich aufgewühlt grübelt der Mann vor sich hin, zu seltsam verläuft der heutige Abend. Vorsichtig öffnet der Mann seine Augen. Diese Augen haben ihren Glanz verloren. Schwarz und leblos ohne jede Ausstrahlung starren sie auf einen imaginären Punkt. Alles, was der Mann einmal gewesen sein mag, scheint vom unendlichen Nirwana aufgesogen. 

Plötzlich kommt Bewegung in den Mann. 

Er greift in die Finsternis. Seine Hand tastet, wie zuvor das Licht, suchend an der Wand entlang. Schließlich verharrt seine Hand. Er scheint gefunden zu haben, was er sucht. Seine Finger umschließen den Gegenstand und mit einer heftigen Bewegung reißt er das Gefundene von der Wand. 

Er hält den Gegenstand ins spärliche Licht und ein fünfzehn mal zwanzig Zentimeter großes Bild ist zu erkennen. Der Anblick scheint ihm neue Kraft und Halt zu geben. Liebevoll legt er das Bild auf seinen Schoß und betrachtet es im spärlichen Licht. Seine Augen finden ihren Glanz zurück, sein Körper strafft sich. Er streckt seine Finger aus und berührt zärtlich die Oberfläche des Glases, welches das Foto einer jungen Frau schützt. Der Anblick gibt ihm verloren Geglaubtes zurück. Das Gesicht des Mannes glättet sich ein wenig und ein inneres Leuchten tritt mit dem ihm umgebenden Licht in Konkurrenz. Zärtlich drückt er das Foto gegen seine Brust, so als wolle er eins mit dem Abbild werden.

Langsam atmet er ein.

Etwas schneller atmet er aus.

Ruhe erfasst ihn.

Er nimmt das Bild und stellt es sorgfältig ins Licht. Unverwandt schaut er die Fotografie an. Seine Fantasie geht auf die Reise. Die Musik von Tannhäuser ist verstummt. Das Zimmer beginnt, die Stille aufzunehmen. Endlich geschieht, was er erwartet, gefürchtet und herbeigesehnt hat. Es ist selten, dass dieses Ereignis eintritt, doch es bewirkt immer das gleiche. 

Zuerst ist da ein Leuchten im Gesicht des Mannes. Dann strafft sich sein Körper. Schließlich schließt er die Augen. Mit geschlossenen Augen sieht ihre grazile Figur auf sich zutreten. Er sieht ihr zartes, buntes Sommerkleid. Er sieht, sie ist glücklich. Er sieht ihr blondes Haar, wie es im Wind weht. Er hört ihr einzigartiges Lachen. Blaue, lebensprühende Augen schauen ihm eindringlich und erwartungsvoll entgegen. Oh ja sie beide sind glücklich.

Besonders an diesem Tag.

Der Mann öffnete die Augen und betrachtete das Bild noch genauer. Er erinnerte sich, war ihr siebenter Hochzeittag. Als er das Bild damals auf einen Speicherchip bannte, ahnte er nicht, woher auch, dass der letzte Tag für seine Frau nicht mehr weit entfernt sein würde. 

Schatten, von Dämonen geworfen, senken sich auf sein Gemüt. Er versucht sie zu vertreiben, indem er an verzweifelt an die gemeinsamen glücklichen Tage dachte. Seine Augen schauten in eine unbestimmte Ferne und Bitternis erobert sein Denken.

Voller innerem Schmerz ruft er die Erinnerung an diesen Tag auf. Endlich hatte er sich Zeit für sie genommen hatte. 

Normalerweise hörte er nicht besonders auf Gefühle. 

Doch diesmal hatte eine nicht greifbare Ahnung ihn bedrängt, dieses Gefühl zu beachten. Normalweise war er ein sehr rationaler Mensch, hielt nicht viel von Gefühlen. doch diesmal ließ er sie zu. Das Gefühl wisperte ihm zu, dass er ihre Liebe, die sie zweifellos für ihn empfand, verlieren würde, wenn er nicht aufhörte, nur an Karriere und an sich zu denken. 

Den gesamten Vormittag versuchte er zu verstehen, warum ihn dieses Gefühl festhielt. Während er eine Tasse Kaffee trank, lauschte er tief in sich hinein. er ließ die letzten Jahre Revue passieren. Er entdeckte Zeichen, leise Andeutungen und dann verstand er. Die Gefahr seine Frau und seine Liebe zu verlieren, hatte sich als klares Bild in seinem Kopf manifestiert. 

Schlagartig wurde ihm bewusst, wie wertvoll und einzigartig seine Beziehung zu dieser Frau war. Ohne ihre Liebe würde jeder Sinn aus seinem Leben verschwinden, dies stand wie ein Menetekel an der Wand. Er musste dringend etwas an ihrer gemeinsamen Beziehung ändern. Als er den Rest seinen Kaffees trank, entschloss er sich zu einem Wandel. Er wollte etwas tun. 

Morgen war ihr siebender Hochzeitstag und dieser Tag sollte ihr ganz persönlicher Tag sein, nur ihr gehören. Nur ihre Wünsche sollten den Tag bestimmen. 

Dieser Gedanke erregte ihn.

Als er ihr dies vorschlug, ließ sie sich, ein bisschen überrascht und irritiert, darauf ein.

Noch immer, wenn er an den Tag dachte, ist er tief beeindruckt, von ihrer Freude auf den nächsten Tag. 

Und tatsächlich wurde der Tage, einer von denen, die nur selten im Leben wahr werden. Gemeinsamkeit, Frieden und Harmonie begleiteten sie in jeder Stunde des Tages. 

Viel zu schnell verging die Zeit. 

Auch seine Fahrt nach Hause war viel zu schnell. 

Seine Gedanken waren bei der zu erwartenden Nacht. Diese Nacht sollte den Tag vervollkommnen.

Er sah das Unheil nicht auf sich zukommen.

Seitdem er das Krankenhaus verlassen hatte, versuchte er das Geschehen zu verstehen, versuchte die Puzzlestücke zusammenzusetzen. Er hoffte, wenn er verstehen würde, würde sich sein Schmerz mildern, vielleicht sogar auflösen.

Seit dieser Zeit fragt er sich in seiner Verzweiflung; warum?

Warum? 

Lachen quillt von der Straße zu ihm herauf. 

 

>>> 

 

Mein Nacken schmerzt. Seit vier Stunden saß ich vor meinem Computer und hatte den Text eingetippt.

Ein sehr trauriger Text.

Weshalb hatte Thomas ihn niedergeschrieben?

Wollte er sich von etwas befreien?

Verwundert las ich den Text, der sich auf meinem Schirm abbildete, ein zweites Mal.

Ein schwer einzuordnendes Gefühl nahm mich gefangen.

Da ich es nicht einordnen konnte, lehnte ich mich zurück und begann mit einer Entspannungsübung. Langsam ging es meinen Muskeln und mir besser.

Mir kam der Gedanke, dass die Trauer des Mannes und meine Trauer, Ähnlichkeiten besaßen. 

Auch ich hatte meinen Verlust noch nicht verarbeitet.

Thomas fehlte mir und ich fragte mich, wie ich ohne ihn weiterschreiben sollte. Es war sein Leben, das ich niederschrieb und, wie ich gerade erleben durfte, bleiben viele Fragen offen. 

Ich besaß zwar viele Notizen, Tagebücher, doch sie alle hatten etwas Unfertiges.

Wie sollte ich Struktur in das komplexe Leben von Thomas bringen?

Thomas, warum?

Warum hast du mich verlassen?

Ich lauschte dem leisen Rauschen des Lüfters nach.

Sorgfältig legte ich die losen Blätter, auf denen die ziemlich düstere, unfertige Geschichte geschrieben steht, in die Erledigt Box.

Kein Happy End. 

Er könnte ein Alter Ego von uns allen sein, kam mir in den Sinn.

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